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Opern-Kritik: Theater Kiel – Manon Lescaut

Durch die rosarote Brille

(Kiel, 22.4.2023) Als rosarot-verschachtelte Kritik an der Wegwerfgesellschaft inszeniert Julia Burbach Puccinis dritte Oper „Manon Lescaut“ am Theater Kiel.

vonAndré Sperber,

Das Leben durch die rosarote Brille zu sehen, das ist normalerweise das Los der endorphingeplagten Liebenden. Und natürlich steht l’amore auch in Puccinis erstem großen Welterfolg „Manon Lescaut“ prominent im Mittelpunkt – doch Regisseurin Julia Burbach verleiht dem rosaroten Anstrich ihrer Kieler Inszenierung eine andere Bedeutung.

Gigantische Geschenkkartons und riesige Schachteln mit ebenso riesigen Schleifchen stapeln und türmen sich meterhoch im gesamten Bühnenraum. Bühnen- und Kostümbildnerin Bettina John hat hier eine Art überdimensionales Verpackungslabyrinth, ein Schachtelgebirge geschaffen, durch das sich die konsum- und vergnügungssüchtigen Figuren ihre Wege bahnen. Alles ist in rosafarbenes Licht getaucht, und auch die Garderobe aller Beteiligten bedient sich sämtlicher Abstufungen des hellen Purpur-Bereichs: vom dezenten Zartrosa über das seröse lachs- und das gediegenere altrosa bis hin zum knalligen Pink. Mit Kitsch, Barbie World und Mädchen-Klischees hat das Ganze jedoch wenig zu tun. Hier geht es um materiellen Überfluss, Kommerz und die verkorksten Werte einer Wegwerfgesellschaft, der auch die zunächst so unschuldig unberührte Manon folgenschwer zum Opfer fallen sollte.

Szenenbild aus „Manon Lescaut“ am Theater Kiel
Szenenbild aus „Manon Lescaut“ am Theater Kiel

Die Geschenkschachtel der Pandora

Puccini hatte sich für seine 1893 uraufgeführte Oper mit dem Werk von Antoine-François Prévost d’Exiles einen der erfolgreichsten Romane der französischen Literaturgeschichte zur Vorlage genommen. Um mit der bereits neun Jahre zuvor entstandenen und umjubelten „Manon“ von Jules Massenet nicht zu sehr in Konkurrenz zu geraten, sparte er die Szenen, die Massenet bereits vertont hatte, in seiner eigenen Version aus. Das Resultat sind enorme erzählerische Sprünge zwischen den Akten, die das Libretto nur mit halbherzigen Erklärungen in Nebensätzen aufklärt.

So ist der Bruch recht hart, als Manon – die eigentlich gerade auf dem Weg ins Kloster ist – sich zuerst Hals über Kopf in den ebenso zurückhaltend-charmanten, aber leider armen Des Grieux verliebt und zum Ende des ersten Akts zusammen mit diesem nach Paris flieht, um dann zu Beginn des zweiten Akts bereits mit dem wohlhabenden Steuerpächter Geronte liiert zu sein und bereits mittendrin zu sein scheint in der Welt der Superreichen. Der Moment, in dem die Büchse bzw. in diesem Fall die Geschenkschachtel der Pandora, in deren Innern wir uns nun befinden, geöffnet wurde, bleibt ausgespart.

Szenenbild aus „Manon Lescaut“ am Theater Kiel
Szenenbild aus „Manon Lescaut“ am Theater Kiel

Die große Frage der Manon Lescaut: Liebe oder Reichtum?

Manon lebt nun ein Leben in pinker Dekadenz mit Prunk, Hochkultur, Puder, Perücken, Rüschen und üppigen Kleidern im Stile Louis-quatorze. Doch glücklich ist sie nicht. Trotz all des Reichtums, trotz all der Geschenke fehlt ihr etwas. Das ist deutlich zu spüren. Regisseurin Julia Burbach legt hier großen Wert auf die Details im emotionalen Ausdruck der Figuren und auf die sehr enge Verbindung zwischen Musik und Bühnengeschehen.

Manons Schachtel, in der sie lebt, mit all dem Schmuck und den etlichen Kleidern, wird zum berühmten goldenen Käfig, aus dem sie nur ihr Geliebter, der ärmliche Des Grieux, befreien kann. Doch als es wiederum tatsächlich soweit ist, kommen Zweifel auf und sie muss sich fragen: Liebe oder Reichtum? – Sie will beides, scheitert daran und wird schließlich von der bunten Konsumgesellschaft verstoßen. Wie ein kaputtes Spielzeug, eine Puppe, die, nachdem mit ihr jahrelang gespielt wurde, einfach entsorgt wird, zusammen mit anderen.

Szenenbild aus „Manon Lescaut“ am Theater Kiel
Szenenbild aus „Manon Lescaut“ am Theater Kiel

Schäumendes Orchester und kraftvolle Stimmen

Musikalisch auffallend hervorgetan – wenngleich gestisch mitunter etwas überaffektiert – hat sich am Premierenabend vor allem der vom Publikum inbrünstig umjubelte Baske Andeka Gorrotxategi als Des Grieux. Mit seinem voluminösen, kraftvollen Tenor konnte er eindrucksvoll mit den schäumenden Kraftausbrüchen des Orchesters mithalten, die Dirigent Benjamin Reiners dem Philharmonischen Orchester Kiel im Graben immer wieder entlockte.

Agnieszka Hauzer als stimmlich sehr reife, aber nicht minder durchdringende Manon kam vor allem in den tragischen Momenten zur vollen Entfaltung. Angemessen schmierig in der Rolle von Manons Bruder zeigte sich auch der hibbelige Tenor von Samule Chan. Dahinter ein wenig zurück blieben der opulent eingekleidete Matteo Maria Ferretti als Geronte sowie der trotz pink-rosaner Hugh-Haffner-Aufmachung farblose Konrad Furian als Edmondo.

Szenenbild aus „Manon Lescaut“ am Theater Kiel
Szenenbild aus „Manon Lescaut“ am Theater Kiel

Schlüssig durchdachtes Konzept

Während das insgesamt schlüssig durchdachte Konzept der Inszenierung als Kritik an der kapitalistisch konsumsüchtigen Wegwerfgesellschaft durchaus funktioniert und mit Liebe zum Detail umgesetzt wird, bleibt der Zugang zu den Charakteren – und das vermutlich ganz bewusst – mitunter eher kontrolliert-distanziert: Obwohl Puccinis Musik vor lauter prickelnder, dahinschmelzender Momente eine geradezu überlaufende Leidenschaft verkörpert, ist man nie so richtig sicher, wie echt und bedingungslos die Liebe zwischen Manon und ihrem Des Grieux wirklich ist – zumindest bis zu dem Moment, wo alles zu spät ist. Doch das verstärkt nur noch die Wirkung des ernüchternden Einflusses der materialistischen Gesellschaft, die sich häufig über die Auslebung des wahrhaftigen und ursprünglichen Inneren legt.

Theater Kiel
Puccini: Manon Lescaut

Benjamin Reiners (Leitung), Julia Burbach (Regie), Bettina John (Ausstattung), Gerald Krammer (Choreinstudierung), Agnieszka Hauzer, Andeka Gorrotxategi, Samuel Chan, Matteo Maria Ferretti, Konrad Furian, Junggeun Choi, Opernchor und Extrachor des Theaters Kiel, Philharmonisches Orchester Kiel

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