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Ballett-Kritik: Semperoper Dresden – Vice Versa

Getanztes Philosophieren

(Dresden, 28.6.2025) Die Semperoper begeistert ihr Publikum zum Spielzeitende mit dem Tanzabend „Vice Versa“ mit zwei Stücken international renommierter Choreographen.

vonJoachim Lange,

Während die Ballett-Sparte in Hamburg gerade für Schlagzeilen sorgt, die man keinem Haus wünscht, verschaffte sie dem anderen großen Opernhaus an der Elbe, der Semperoper Dresden, gerade ein bejubeltes Saisonfinale. Dabei war es sogar nur zur Hälfte eine Uraufführung. Die stammte vom niederländischen Geschwisterpaar Imre und Marne von Opstal, trug den Titel „November“ und lebte musikalisch von einer Auswahl, die die beiden auch für Kostüme zuständigen Choreografen aus Werken des renommierten estnischen Komponisten Arvo Pärt (Jahrgang 1935) mit sicherem Instinkt zusammengestellt haben.

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Der erste Teil des Doppelabends unter dem zusammenfassenden Allerweltstitel „Vice Versa“ besteht aus dem 2014 in Göteborg uraufgeführten Stück „Noetic“ von Sidi Larbi Cherkaoui. Das Stück erweist sich auch bei seiner Dresdner Wiederbelebung nach über zehn Jahren als erstaunlich frisch und allgemeingültig. Die Musik dazu stammt vom polnischen Komponisten Szymon Brzóska, geboren 1981, der schon öfter Ballettmusik für Cherkaoui komponiert hat.

Szenenbild aus „Vice versa“
Szenenbild aus „Vice Versa“

Die musikalische Seite ist ein großer eigener Genuss

Der Tanz ist in beiden Teilen natürlich die Hauptsache, aber auch die rein musikalische Seite ist schon allein deshalb ein gleichsam eigener Genuss, weil sie von der Sächsischen Staatskapelle unter der kundigen Leitung von Charlotte Politi beigesteuert wird. Das Faszinierende an diesem Abend ist der ästhetische Kontrast zwischen seinen beiden Teilen. Beides kein Handlungsballett, sondern eher auf grundsätzlichere Fragen orientiert, spielt in beiden Fällen eine fragile, große Metapher eine wichtige Rolle. Wobei die eine erst erschaffen wird und die andere sozusagen naturgegeben vorhanden ist.

Zwischen dem kreativ Chaotischen und dem geometrisch Exakten

In Cherkaouis, von Stephan Laks choreografisch einstudiertem Tanzstück „Noetic“ sind es flexible, flache Polycarbonatstäbe, aus denen die 19 Tänzer Bögen, Reifringe, Dächer wie in einem Barockgarten formen und am Ende ein Etwas kreieren, das zeitweise wie ein Nest wirkt, sich dann aber als eine brüchige globusähnliche Skulptur erweist, die einen einzelnen Menschen einschließt. Alles in dem karg weißen Raum von Antony Gormley, in dem die eleganten, normierend bürokompatiblen Kostüme (nach dem originalen Design von Les Hommes) gut kontrastierend wirken.

Szenenbild aus „Vice versa“
Szenenbild aus „Vice Versa“

Den Auftakt für dieses Hohelied eines Wechselspiels des kreativ Chaotischen und des geometrisch Exakten liefert Shogo Yoshii, der sich mit Taiko-Trommeln, dem japanischen Streichinstrument Kokyu und Flöte dem satten Orchesterklang beimischt, ihn antreibt oder ihm widerspricht. Auch wenn die lateinischen Gesänge von Miriam Andersén nicht übersetzt werden – dank der deutschen und englischen Texteinwürfe wird klar, dass hier Wirklichkeit und ihre Wahrnehmung auf ihre sozusagen mathematischen Elementarteilchen zurückgeführt werden. Immer aufeinander bezogen, formieren sich Gruppen und Ensemble und lösen sich wieder auf.

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Mehrfach schreitet Christian Bauch auf High Heels gemessenen Schrittes diagonal über die Bühne. Und wartet später mit der Erkenntnis auf, dass das mit verblüffender Eleganz auch rückwärts geht. Bewegung erfasst hier immer den ganzen Körper. Schließlich findet sich das Ensemble im Spiel mit den biegsamen Stabelementen zu einem kreativen Ganzen zusammen. Dass am Ende der eine stellvertretende Mensch inmitten seiner Schöpfung eher unsicher als triumphierend dasteht, mag durchaus als ein Fazit ansehen, das zum Weiterdenken verführen soll.

Szenenbild aus „Vice versa“
Szenenbild aus „Vice Versa“

Riesenschleier als Zaubermantel der Phantasie

Der Titel „November“ für die Uraufführung des Doppel-Abends erfasst nur den eher atmosphärischen Teil der assoziativen Wahrheit dieser Choreografie. Wenn sich zu Beginn kompliziert verschränkte Traversenelemente in den Raum und dann in die Höhe des jetzt nicht mehr begrenzten Raumes schieben, wundert man sich noch über das scheinbare Chaos, hält es gar für eine Gegenthese zu dem Lob der geometrischen Korrektheit in Bild und Bewegung des ersten Teils.

Doch wenn sich dann der wie ein Hauch wehende Riesenschleier entfaltet und im faszinierenden Duett mit der Windmaschine ein Eigenleben entfaltet, wird der beim Betrachter zu einem Zaubermantel der Fantasie. Mal teilt er die im hautfarbenen Einheitsdress Nacktheit assoziierenden Tänzer in zwei Gruppen, von denen eine ins scheinbare Nichts entschwindet. Mal weht er ein einzelnes Paar nach vorn, als wären es Adam und Eva auf dem Weg aus dem Paradies in die Welt. Er könnte glatt der Saum des Mantels der Geschichte sein, in dem sich der Wind verfängt, der (wie beim berühmten „Angelus-novus“-Text von Walter Benjamin) vom Paradies her weht.

Jubel für Alle!

Der wichtige Partner ist natürlich auch hier das bestens präparierte Dresdner Ensemble. Es sitzt am Boden, bildet Gruppen, die lösen sich auf und formieren sich neu. Manchmal frieren die Bilder ein, sie brauchen die Konfrontation mit dem Wehen. Irgendwann gehen sie zu Boden, als wären sie gerade aus einem Höllensturz-Gemälde gefallen. Doch mit ihrem ausführlichen Adam-und-Eva-Pas-de-Deux weisen James Kirby Rogers und Nastazia Philippou einen Weg aus der Melancholie dieses metaphorischen Novembers. Jubel für Alle!

Semperoper Dresden
Cherkaoui/Opstal: Vice Versa (Noetic/November)

Sidi Larbi Cherkaoui & Imre & Marne van Opstal (Choreographie), Charlotte Politi (Leitung), Szymon Brzóska & Arvo Pärt (Musik), Antony Gormle & Boris Acket (Bühne), David Stokholm & Tom Visser (Licht), Les Hommes, Imre & Marne van Opstal (Kostüm), Adolphe Binder (Dramaturgie), Miriam Andersén (Gesang), Shogo Yoshii (Taiko-Trommeln, Kokyu & Flöte), Semperoper Ballett, Sächsische Staatskapelle Dresden





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