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Porträt Dresdner Kreuzchor

O du fröhliche …

2016 feiert der Dresdner Kreuzchor seinen 800. Geburtstag. Zum Jubiläums-Auftakt laden die Knaben zum Adventskonzert ins Stadion

vonOliver Geisler,

Strahlkräftige und wirkmächtige Bilder von Dresden existieren zahlreiche. Es sind Bilder einer Stadt, die sich seit 1989 ihrem äußeren Anschein nach so stark gewandelt hat wie nur wenige andere deutsche Städte. Inmitten dieses Wandels aber gibt es eine bemerkenswerte Konstante: Woche für Woche, in jeder Passions- und Adventszeit, seit Jahren und Jahrzehnten bildet sich vor der Dresdner Kreuzkirche eine lange Schlange. Menschen stehen an, um ihren Kreuzchor und ihre „Kruzis“ zu hören. Dass diese Schlange sich heute nicht mehr auf einem leeren Altmarkt ausbreiten kann, sondern allerorten neu errichtete Büro- und Hotelgebäude die Kreuzkirche umzingeln, und dass der Baulärm der Kulturpalast-Umgestaltung das Warten nicht gerade versüßt – das ist die neue Wirklichkeit. 

Identitätsanker und Identitätsgenerator im Herzen der Stadt

Ungebrochen indes ist die Faszination, die von der jahrhundertealten Tradition des Knabengesangs ausgeht: Der Kreuzchor ist ein Identitätsanker und auch Identitätsgenerator im Herzen der Stadt. Und dies über unzählige Brüche und Wandlungen hinweg.

 Solch eine sinnstiftende Kraft vermögen nur wenige Personen und Institutionen Dresdens zu schaffen – und wenn, hat dies doch immer auch mit dem Kreuzchor zu tun. Im September etwa engagierte sich Peter Schreier mit einem Benefizkonzert in der Kreuzkirche für eine neue Konzertorgel im Kulturpalast: Zu seinem Mozart-Requiem strömten 3000 Menschen – ausverkauft! Denn Schreier, der ehemalige, vielleicht auch „ewige“ Kruzianer, ist gleichsam ein Sinnbild für die prägende Verwurzelung in der Stadt bei gleichzeitiger internationaler Reputation, wie sie eben auch das Wirken des Kreuzchores in den letzten Jahrzehnten charakterisiert.

 Apropos Wurzeln: Wie weit diese beim Kreuzchor tatsächlich in die Geschichte hineinragen, ist gar nicht so sicher. Der renommierte Musikhistoriker Wolfram Steude hatte schon vor Jahren gemahnt, die Verknüpfung der Chorgründung mit der erstmaligen Erwähnung Dresdens als Stadt 1216 sei eine willkürliche Setzung und gehöre eher in den Bereich der Legendenbildung; frühestens um 1300, wahrscheinlicher Mitte des 14. Jahrhunderts ließen sich ein Kantor und sängerische Aufgaben nachweisen, die als Urszenen des Kreuzchores gelten könnten. Doch auch 2016 wird dies wohl keine Beachtung finden: Der Kreuzchor gilt heute weltweit als legendär – da kann eben auch eine Legende am Anfang stehen.Die folgenden Jahrhunderte zusammenzufassen, wird natürlich weder der Fülle prägender Einzelpersönlichkeiten und markanter Entwicklungen gerecht, noch dem mal konfliktreichen, mal konstruktiven Wechselspiel zwischen Kirche, Stadt und Chor. Aber 800 (oder eben rund 650) Jahre sind ja generell eine kaum fassbare Größe.

Wie aus einer Tournee nach Schweden eine Marke von Weltformat wurde

 Indes gibt es einen besonderen Moment zu entdecken, der bis heute entscheidend fortwirkt und sowohl das Selbstverständnis als auch die Anforderungen des Chores geprägt hat: Noch im 19. Jahrhundert war der Kreuzchor nur gelegentlich außerhalb Dresdens aufgetreten – und dann allenfalls während der Ferien in sächsischen Städten und Dörfern wie Bischofswerda, Großenhain, Chemnitz oder Einsiedel. 1920 fand dann die erste Auslandsreise statt: nach Schweden. Eine Tournee, die zum Sinnbild einer Ausweitung der Gesangszone wurde und eine ungeheure Dynamik freisetzte: Ein Bann schien gebrochen, von da an wurde die stete Internationalisierung vorangetrieben.

 Natürlich gab es da weiter die Wurzeln, doch nun streckten sich Äste in alle Himmelsrichtungen. Der Kernaufgabe der Kirchenmusik trat selbstbewusst und durchaus konfliktreich die „Marke Kreuzchor“ zur Seite. Und der Chor kann ein Lied davon singen, wie fortan – unter den prägenden Kantoren Rudolf Mauersberger und Martin Flämig – und bis heute die Geschichte des Kreuzchores auch eine spannungsreiche Geschichte ist zwischen der Pflege geistlicher Musik und notwendiger Internationalisierung, städtischer Trägerschaft und gesellschaftspolitischen Einflüssen.

 Wer sich global behaupten will, braucht Strahlkraft

 Anforderungen wie auch Schwierigkeiten, die im Angesicht des bevorstehenden Jubiläums einmal mehr deutlich werden: Seit kurzem haben Marketingexperten dem Chor im Internet ein gänzlich neues Erscheinungsbild verpasst – wer sich global behaupten will, braucht einen strahlkräftigen Auftritt. Doch was für die Außenwirkung Erfolg verspricht – als zentrales Motiv des Jubiläumsdesigns einen Kruzianer vor die Frauenkirche zu stellen –, wirft nach Innen in die Stadt wie auch die eigene Geschichte hinein die Frage auf: Welchen Stellenwert soll eigentlich die Kreuzkirche als Quelle und Heimstatt noch haben?

 Hip-Hop hören und Johann Sebastian Bach singen

Der Sprache der Werbung sind solche Gedanken naturgemäß fremd: „Einer der besten Chöre überhaupt“, heißt es da – „In der Welt zu Gast. In Dresden zu Hause. 130 Sänger der Spitzenklasse im Alter zwischen 9 und 19 Jahren. Klassik und Moderne. Die Championsleague der Musik.“ Zum frisch geputzten Design des Chores gehört eben auch eine neue Selbstbeschreibung, die von „Jungen und jungen Männern“ spricht, „die Hip-Hop hören und Johann Sebastian Bach singen“. Ein Ergebnis des Drucks, Wurzeln und (Um-)Triebe auszutarieren, eine Dynamik zu entfalten, die trotzdem das Festhalten nicht als Stillstand, sondern als Wert zu begreifen vermag. Zwischen Hoyerswerda und China liegen halt Welten – wie auch zwischen Kreuzkirche und Tokio Opera Hall. Doch vielleicht gelingt der Balanceakt ja. Dann würde neben eindrucksvollen Schnappschüssen aus Fernost auch jenes Bild weiter seine Gültigkeit und seinen Wert besitzen: Dresdner und Gäste stehen gemeinsam in einer Schlange vor der Kreuzkirche. Was gerade in diesen Zeiten ein nicht zu unterschätzendes Erlebnis wäre: Auch in der Innenstadt Dresdens kann es regelmäßig große Menschenmengen geben, von denen nichts Bedrohliches ausgeht.

 ONLINE-SPECIAL: Ehemalige Kruzianer berichten 

 Im Rückblick auf meine Zeit im Dresdener Kreuzchor (1967-1976) ist mir vor allem die Entwicklung der musikalischen Grundlagen für meinen späteren Beruf als Sänger bedeutsam und wichtig – und zwar nicht nur das Lesen, Hören und Singen des Notentextes, sondern auch die Grundlagen des Übens und Probens und eine gewisse Selbstverständlichkeit, auf einer Bühne zu stehen. Im Zusammenhang damit steht natürlich auch die Erfahrung des Erlebens und Lebens von Gemeinschaft: Rücksichtnahme, Konfliktfähigkeit, Anerkennung einer gesunden Hierarchie und Disziplin sind für junge Menschen ungeheure Herausforderungen, ohne die ein Institut wie der Dresdner Kreuzchor jedoch nur schwer existieren kann. Da ich weder einen akademischen noch einen künstlerischen oder religiösen Familienhintergrund habe, waren für mich zu damaligen DDR-Zeiten auch die täglichen Auseinandersetzungen zwischen der stark von der Ideologie des Sozialismus geprägten Schulbildung einerseits und den musikalischen Diensten im Geiste des Evangeliums im Rahmen der Proben und Aufführungen des Chores andererseits ungeheuer prägend.

Olaf Bär (*1957), Sänger und Gesangspädagoge

 Der Kreuzchor gibt Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit sich jeden Tag mit Musik beschäftigen zu müssen. In Zeiten der unendlichen Möglichkeiten eine einzigartige Chance eine musikalisch kulturelle Prägung für das ganze Leben zu erhalten. Dem Kreuzchor wünsche ich die Kraft für die Besinnung auf seine eigentlichen Aufgabe – die Pflege der Musica sacra. Eine Teilung des Chores zur Weihnachtszeit oder Konzertreisen in kleiner Besetzung stärken sicher die Marke Kreuzchor – aber eine Gemeinschaft ist nur dann stark, wenn viele an ihr teilhaben können.

Alexander Schneider (*1977), Sänger und Ensembleleiter

 Meine Zeit im Kreuzchor verbinde ich mit ganz unterschiedlichen Bildern und Erinnerungen. Von den zaghaften und unsicheren Anfängen in den ersten Knabenjahren, erste Auftrittserfahrungen und das damit entstehende Selbstbewusstsein im Umgang mit Musik, wechselnde Kreuzkantoren (in meiner Zeit immerhin fünf verschiedene, teils kommissarisch!), legendäre Fußballspiele, tiefe Freundschaften und heftige Enttäuschungen. Das wichtigste und für mich prägendste ist allerdings das durch unzählige Proben und Konzerte erlangte Gespür für und die Liebe zur Musik. Das wünsche ich noch ganz vielen Generationen von Kruzianern, dass sie diesen Zugang zur Musik in ihrer Zeit im Kreuzchor finden können.

Emanuel Scobel, (*1981), Vertriebsleiter beim Carus-Verlag Stuttgart

Dem Dresdner Kreuzchor wünsche ich, dass er ein Felsen der Tradition in einer modernen Welt voller Beliebigkeiten bleibt. Wenn ich heute an den Kreuzchor denke, ist es für mich unmöglich,mir eine andere Art und Weise des Heranwachsens als in dieser Gemeinschaft vorzustellen. Und um nichts in der Welt würde ich es missen wollen.

Torsten Rasch, (*1965), Komponist

 Wenn ich an den Kreuzchor denke, dann denke ich an Zusammenhalt, Disziplin und Motivation.

Sebastian Wartig, (*1989), Sänger

Album Cover für
Mauersberger: Dresdner Requiem, Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ u. a. Solisten, Dresdner Kreuzchor, Dresdner Philharmonie, Matthias Jung. Carus

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