Ein Logo, ja sogar ein Slogan tragen die Professionalität und das Markenbewusstsein des Kammerchores Tenebrae nach außen. Ein designtes Initial, das große T, und der Claim „precision and passion“ prangen auf den Alben, den Notenmappen und der Website. Was das Label verspricht, hält der Klang ein. Sowohl auf den bereits über zwanzig Alben als auch bei Konzerten in den einschlägigen Konzerthallen, Kirchen und auf Festivals kann man sich davon überzeugen. Man würde nie auf den Gedanken kommen, dass die Gründung dieses Spitzen-Ensembles auf eine Bauchentscheidung von Nigel Short, Gründer, Herz und Kopf des Ensembles, zurückgeht: „An accident“ – ein Unfall, wie der Sänger mit britischem Understatement schmunzelnd bemerkt.
Vom unerwarteten Anfang zur Weltbühne
Bei der beeindruckenden Entwicklung und den Erfolgen überrascht die Entstehungsgeschichte, die der ehemalige Sänger dazu gerne erzählt. „Seit ich ein kleiner Junge war, habe ich gesungen: im Westminster Abbey und Cathedral Chor, dann als Countertenor bei den Tallis Scholars und bei den King’s Singers. Als ich das Ensemble 2000 verließ, wollte ich es eigentlich gut sein lassen mit der Musik. Ich wollte unbedingt sehr gut Skifahren lernen und ging dafür in die Schweiz. Dort traf ich zufällig auf die Witwe von Georg Solti, Lady Valerie Solti. Sie war so charmant und fragte mich eines Tages, ob ich der Kathedrale von Genf weiterhelfen könnte. Den Veranstaltern dort sei ein britischer Chor abgesprungen und sie benötigten dringend Ersatz.“ Schnell war sein Ensemble auf die Beine gestellt, ein Konzert gegeben, ein Name gefunden. Und dann? Alle Beteiligten waren sich einig: Das kann es nicht gewesen sein. Es musste weitergehen. So nahm das Schicksal des Chores seinen Lauf.
Seitdem hat das Ensemble bereits bei den BBC Proms, in der Wigmore Hall, in der Elbphilharmonie Hamburg und auf fernen Kontinenten wie Australien gesungen. Dennoch hat Nigel Short noch Träume: „Es gibt noch einige Orte, die ich gerne besingen möchte. Einer davon ist die Sixtinische Kapelle, das wäre wunderbar. Auf meiner Wunschliste stehen noch die Kathedrale in Santiago de Compostela und Konzerte in Neuseeland – da könnte ich dann auch Skifahren.“
Ein Ensemble voller dunkler Schönheit
Nigel Short hat allen Grund, positiv in die Zukunft des Chores zu blicken. Mit einer eigenen Talentförderung verjüngt sich das Ensemble fortlaufend von innen, und die Ensemble-DNA bleibt erhalten. Die Stimmen sind handverlesen von Short, der sie in absoluten „Blind Auditions“ aus hunderten von Bewerbungen aussucht. Wichtig vor allem in der letzten Runde: Stimmt das Chor-Gefühl? „Ein Dirigent zeigt dir niemals alles über das Singen im Chor. Wenn man als Kind mit dem Chorsingen beginnt, absorbiert man über eine lange Zeit die Fähigkeiten, die man benötigt, und kann sie dann intuitiv abrufen.“ Unverkennbar bevorzugt Short einen klaren, schlanken Klang, der sich im Kollektiv verstetigt und dann in seiner Stabilität erstrahlt – wie ein solides Bauwerk, das lebt.
Zu dieser Klarheit und Präzision gesellt sich bei den Konzerten die besagte Passion: der Anspruch, eine Begegnung mit Tenebrae zum unvergesslichen Erlebnis zu machen. So gibt es bei A-cappella-Programmen Lichtstimmungen und Raumbewegungen. „Tenebrae” heißt zwar Schatten, nach einem Konzert fühlt man sich aber eher von Schattierung des Lichts durchflutet. Kaum zu glauben, dass die Namensgebung nur auf den Titel eines Konzerts zurückgeht, das Short einmal im Kerzenlicht sang. Er ist weise gewählt, kann er doch überall auf der Welt verstanden und interpretiert werden. Klang und Repertoire weisen Tenebrae unverkennbar als britischen Chor aus, auch wenn die Programmauswahl stets den weiten Horizont des Meisters erkennen lässt. Für Nigel Short kam der Perspektivwechsel nach der Sängerkarriere fast wie von selbst. Die Probenarbeit, das Dirigieren und Kuratieren fielen ihm auch ohne entsprechende Ausbildung leicht. Es war wohl doch kein Zufall, was in der Schweiz seinen Anfang nahm – und erst recht kein Unfall.
A Prayer for Deliverance
Werke von Howells, Holst, Shaw u. a.
Tenebrae, Nigel Short (Leitung)
Signum Classics

