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Musik und Gesundheit

Die Kraft der Musik

Wenn Musik plötzlich das Tor zur Erinnerung öffnet: Alzheimer-Patienten profitieren von neuen Erkenntnissen.

vonHelge Birkelbach,

Wie heiter und doch seltsam diese Sinfonie beginnt. Es ist jene Erinnerung an ferne Zeiten, ein Eintauchen in eine ursprünglich-harmonische Natur, voller Zauber und Reinheit. Das Volkslied, das der Komponist hier zitiert, heißt Sirvonja, ein kroatisches Kinderlied, das von Hirten und Waldarbeitern gesungen wurde. Die Melodie bricht immer wieder ab, dreht sich im Kreis, wie in einem Traum, der eine Geschichte aus der Vergangenheit in Endlosschleife wiederholt, einfach weil sie so schön ist. In seiner „Pastorale“, der sechsten Sinfonie, lässt Ludwig van Beethoven im ersten Satz die Natur singen und die Menschen tanzen.

Die Zeit steht gleichsam still in innigster Verbundenheit. Die Erinnerung ist die Gegenwart, das Jetzt ist unbemerkt ins Gestern zurückgekehrt. So mag es jedem ergehen, der einen Song aus seiner Teenagerzeit nach vielen Jahren wieder hört. Die Jugendliebe! Die Klassenfahrt! Der Urlaub auf Kreta! Alles ist wieder da, greifbar nah, sogar mit Gerüchen und Sonnenwärme gemischt. Dieses Phänomen kann erstaunlicherweise auch bei Demenzkranken beobachtet werden. Während die Gedächtnislücken immer größer werden, bis sie sogar Angehörige nicht mehr wiedererkennen, leuchten ihre Augen auf, wenn sie ein Musikstück hören, das ihnen bekannt ist – oder bekannt vorkommt. Sie können plötzlich wieder Lieder mitsingen. Sie tanzen mit oder wippen im Takt. Sie erinnern sich unvermittelt an Dinge, die sie mit der Musik verbinden.

Überraschung beim Blick ins Gehirn

Hirnforscher Prof. Thomas Fritz hat eine Erklärung dafür: „Unsere Reaktivität auf Musik ist sozusagen neuronal tief in uns verankert.“ Zusammen mit anderen Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften hat er 2015 eine Studie veröffentlicht. „Die Ergebnisse unserer Alzheimer-Studie wurden mit Begeisterung aufgenommen, da wir einen Anfang eines Erklärungsmechanismus für all die anekdotischen Erfahrungen mit Alzheimer-Patienten liefern konnten, die so stark und positiv auf Musik reagierten.“ Endlich gab es eine wissenschaftliche Erklärung dafür, warum das Langzeit-Musikgedächtnis auch im Alter und bei dementen Personen noch so gut funktioniert.

Thomas Fritz (links) zeigt die Funktionsweise der Trainingsgeräte
Thomas Fritz (links) zeigt die Funktionsweise der Trainingsgeräte

Man fand heraus, wo genau im Gehirn die Erinnerungen gespeichert werden – und zwar an einer völlig anderen Stelle als bisher vermutet. Verantwortlich für den Erinnerungsschwund ist das Protein Amyloid, das den Stoffwechsel herunterfährt und sich als Ablagerung im ganzen Gehirn verbreitet. Nur in einem Areal ist der Schwund der Nervenzellen und der verminderte Stoffwechsel nicht so deutlich ausgeprägt: im sogenannten supplementär-motorischen Areal (SMA). Bisher ging man davon aus, dass dort vor allem komplexe Bewegungsabläufe, Erwartungen und die Vorbereitung von Tätigkeiten verarbeitet werden. Im übertragenen Sinn kann man sich vorstellen, dass hier Musik als eine komplexe Sequenz von Bewegungen gespeichert wird. Fritz schränkt jedoch ein: „Die Idee, dass sich bestimmte Funktionen in bestimmten Arealen lokalisieren lassen, ist nicht ganz richtig. Man kann aber sagen, dass es sich hier um eine besonders wichtige Station in einem Netzwerk von Hirnarealen handelt.“

Die besondere Bedeutung des Areals stellte man in Voruntersuchungen an gesunden Probanden fest. Hierfür stellten die Wissenschaftler zunächst ein Set von insgesamt 120 Musikstücken zusammen, die sie aus den Top 10 der Deutschen Media Control Charts der Jahre 1977 bis 2007 zogen. Da Musikerfahrung und damit auch das persönliche Musikgedächtnis weitgehend sozial und kulturell geprägt ist, sollte so vermieden werden, eine willkürlich subjektive Auswahl zu treffen. Im Set befanden sich sowohl klassische Stücke als auch Kinderlieder und Oldies aus Rock und Pop. Im bildgebenden Verfahren fanden nicht nur Originalmusikstücke Verwendung, sondern auch eher unbekannte Musikstücke aus zwei Kontrollkategorien, die den Originalmusikstücken in akustischen Parametern vergleichbar waren. Bei der Auswertung konnten die Forscher unterschiedliche Hirnareale lokalisieren, die jeweils auf lang bekannte, kurz bekannte oder nicht bekannte Musikstücke ansprachen. Für die Langzeit-Musikerinnerung wurde der supplementär-motorische Cortex ermittelt.

Erfolge in der Therapie

Aufgrund der weltweit alternden Bevölkerung ist allerdings zu erwarten, dass die Anzahl an Demenzerkrankten weiterhin steigen wird. Derzeit werden nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit etwa zehn Millionen Menschen im Jahr mit der Diagnose Demenz konfrontiert. Die Suche nach wirksamen Therapien und Behandlungen gewinnt damit zunehmend an Bedeutung. „In unserer Arbeitsgruppe in der Abteilung Neurologie unter Prof. Arno Villringer arbeiten wir intensiv mit musikalischen Interventionen in der Neurorehabilitation“, so Prof. Thomas Fritz. „Die Gruppe umfasst sowohl Alzheimer-Patienten als auch Betroffene mit Morbus Parkinson und Schlaganfall-Diagnose.“ Dabei kommen völlig neue Technologien zum Einsatz. Fritz ist Gründer und Chief Scientific Officer des Leipziger Start-ups Jymmin, das gymnastisch-sportliches Training mit musikalischen Aktivitäten kombiniert. „Mit der Technologie haben wir einen neuen Ansatz in der Neurorehabilitation gefunden. Bei den Alzheimer-Patienten konnten wir mit dieser Musik-Sport-Methode nach nur fünf Tagen Training im Vergleich eine Verbesserung des Kurzzeitgedächtnisses erkennen. Das sind noch sehr neue Daten; wir arbeiten derzeit an der Finalisierung des Manuskripts zur Veröffentlichung.“

Ferne Klänge und Herzmusik

Ein Konzert aus der Reihe „Herzmusik“ der Duisburger Philharmoniker
Ein Konzert aus der Reihe „Herzmusik“ der Duisburger Philharmoniker

Seit Jahren wird nicht nur in der Forschung und Rehabilitation mit Musik gearbeitet. Konzerthäuser und kulturelle Einrichtungen bieten verstärkt Formate an, die sich an ältere Menschen und Demenzerkrankte richten. So zum Beispiel die Konzertreihe „Ferne Klänge“ in der Hamburger Elbphilharmonie. „Wir möchten diesen Menschen die Möglichkeit geben, Konzerte zu erleben und gleichzeitig frei mit der Krankheit umgehen zu können. Sie dürfen sich bewegen und sprechen, hier darf jeder sein, wie er ist“, erklärt Anke Fischer vom Education-Team der Elbphilharmonie. Auch die Duisburger Philharmoniker kümmern sich um Menschen mit Demenz und deren Begleiter. Zum Programm der Reihe „Herzmusik“ gehört ausgewählte klassische Musik in unterschiedlicher Kammermusikbesetzung. Mit einer Konzertlänge von höchstens sechzig Minuten berücksichtigt man die besondere Situation der Betroffenen. Das gemeinsame Abschluss-Singen ist mittlerweile liebgewonnene Tradition geworden.

Prof. Thomas Fritz weiß um die Bedeutung solcher Initiativen für die gesamte Gesellschaft. „Demenz ist ein Thema, um das irgendwann keine Familie herumkommt. Ich denke, es ist wichtig für Patienten wie auch Angehörige, möglichst die Angst vor der Demenz hinter sich zu lassen. Auch hier ist Musik so mächtig.“

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