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Feature: „Johannes-Passion“ im Kontext weltlicher Oster-Festspiele

Dann klatscht halt!

Vor dreihundert Jahren erklang erstmals Bachs Johannes-Passion. Noch immer herrscht bei Aufführungen von Passionen eine Art verordnete Ergriffenheit. Warum eigentlich, fragt sich Maximilian Theiss.

vonMaximilian Theiss,

Als BachsJohannes-Passion“ das Licht der Welt erblickte, stritt man sich – wieder einmal – darüber, wo die Grenze zwischen Kunst und Kult liegt. Letztendlich reicht diese Debatte noch einmal über tausend Jahre zurück zu Augustinus. Für den Kirchenvater hatte die Verkündigung des Bibelwortes oberste Priorität. Doch das Dilemma steckt schon im Wort „Verkündigung“: Die in den Evangelien niedergeschriebene Leidensgeschichte kann nicht einfach so (im wahrsten Sinne des Wortes) heruntergebetet werden, sondern soll „würdig gelesen und gefeiert werden“ („solemniter legitur, solemniter celebratur“), so Augustinus’ Worte in seinen Bekenntnissen. Liturgischer Gesang oder eine gesungene Lesung standen ihm da im Sinn, denn in seinen Augen war die Musik als solche der Andacht eher hinderlich als förderlich: Im Mittelpunkt hat unbestritten das Bibelwort zu stehen, davon dürfen keine Wohlklänge ablenken.

Wie soll man also die Passionsgeschichte würdig verkündigen? Die Frage führte zu einer jahrhundertelangen Evolution der musizierten Passion. In den gregorianischen Anfängen galt allein das Wort der vier Evangelisten, freilich in lateinischer Sprache. Eine wie auch immer geartete Passionserzählung außerhalb des liturgischen Zeremoniells war da noch undenkbar. Aber rein rational ließ sich die Leidensgeschichte dann doch nicht erfassen, vielmehr noch: Sie sollte an den Emotionen rütteln.

Die Jerusalempilgerin Egeria berichtete im 4. Jahrhundert von regelrechten Gefühlsausbrüchen der Zuhörenden, von einem „Mit-Leiden“ („compassio“) während der Passionserzählung. Sie bezieht sich da explizit auf einen Vortrag der Kreuzigungsepisode aus dem Johannes-Evangelium. Früh schon entwickelte sich in Jerusalem die dreitägige Osterfeier von Karfreitag bzw. dem Abend des Gründonnerstag bis Ostersonntag mit einer Prozession zu den heiligen Stätten. Es ist kein Zufall, dass über ein Jahrtausend später Bach in seiner „Johannes-Passion“ an der Stelle kurz nach dem Tod Christi den Tenor fragen lässt: „Was willst du deines Ortes tun?“ Darauf der Sopran: „Zerfließe, mein Herze, in Fluten der Tränen, dem Höchsten zu Ehren“ – und zwar hier und heute, zeitlich und räumlich so weit entfernt vom Akt der Kreuzigung des Herrn.

In der Leipziger Nikolaikirche wurde Bachs Johannes-Passion uraufgeführt
In der Leipziger Nikolaikirche wurde Bachs „Johannes-Passion“ uraufgeführt

Affekt versus Affekt-Heischerei

1724, im Uraufführungsjahr der „Johannes-Passion“, ging vielen Menschen der musikalische Affekt zu sehr in Richtung Affekt-Heischerei. Nachdem in den ersten Jahrhunderten des Christentums für die Passionswerke ausschließlich das Wort der Heiligen Schrift galt, öffnete sich nach einer blühenden Phase von oratorischem Flechtwerk aus Bibeltexten, Chorälen und gedichteten Arien schließlich eine Epoche, in der neu verfasste Kreuzigungsgeschichten zur Vorlage wurden. Die Dichtkunst hielt also Einzug in die Passionserzählung. Prominentestes Exemplar bis heute ist das Libretto von Barthold Heinrich Brockes, das so oft vertont wurde, dass man auch gerne von der „Brockes-Passion“ spricht. 1712 kam sie zur Uraufführung, damals in Töne gesetzt vom späteren Hamburger Dom-Kantor Reinhard Keiser.

Es gab in diesen Jahren wohl viel Redebedarf, der in musikalische und theologische Debatten mündete, nicht selten auch abseits der Sachlichkeit geführt. „Behüte Gott, ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera oder Comödie wäre“, wetterte eine bis zum heutigen Tage anonyme „adeliche Wittwe“, zitiert in Christian Gerbers „Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen“, erschienen in den 1730er-Jahren. Er selbst zeigte sich ebenfalls erschüttert und notierte, solcherlei Musik gehöre besser aufs Tanzparkett. Die Gegenseite wiederum führte an, dass dramatische Passionsmusiken viel mehr an den Emotionen zu rühren vermögen als Lesungen und Predigten von Geistlichen, denen nach vielen Jahren in Amt und Würden die nötige Leidenschaft für den Vortrag abhandengekommen sind.

Autorgraf der ersten Seite der Johannes-Passion
Autorgraf der ersten Seite der Johannes-Passion

Oratorische Passion, Passionsoratorium

Johann Sebastian Bach fand in seiner „Johannes-Passion“ den Mittelweg, vielleicht auch deshalb, weil er den damals bereits anachronistischen Ansatz wählte und die Worte des Evangelisten Johannes um Choräle sowie um freie Dichtungen beispielsweise von Christian Heinrich Postel, Christian Weise oder auch Brockes erweiterte. Man unterscheidet daher auch zwischen „oratorischer Passion“ mit wortgetreuen Bibeltexten und „Passions­oratorium“, das die Leidensgeschichte neu erdichtet. Doch nicht Bach selbst entschied sich für die Komposition einer oratorischen Passion: Am Karfreitag 1717 wurde in Leipzig die Aufführung einer oratorischen Passion in der Neuen Kirche derart begeistert aufgenommen, dass sogleich die Tradition entstand und in Leipzig nunmehr in großem Stil eine Passionsmusik karfreitags zur Aufführung gebracht wurde. Eine oratorische Passion, wohlgemerkt, kein Passionsoratorium. Die Aufgabe fiel 1724 Johann Sebastian Bach zu, der erst ein Jahr zuvor, am 22. April 1723, zum Thomaskantor bestallt worden war (als dritte Wahl übrigens: Erst sollte es Telemann werden, doch in Hamburg hob man hierauf schlagartig dessen Gehalt an, dann wollte man Christoph Graupner, doch den ließ der hessische Landgraf nicht ziehen). Damals unterschrieb Bach eine Vereinbarung: Seine Musik dürfe in den Kirchen nicht allzu große zeitliche Ausmaße erhalten, bitte auch ja keine Opernanleihen in die Werke hineinkomponieren, und überhaupt solle seine Kunst lediglich die Andacht der Zuhörer unterstützen. Die Grenze zwischen Kult und Kunst, sie war klar gezogen.

Und heute? Denkt man an Richard Wagners Parsifal, muss man anerkennen, dass der Karfreitag schon seit bald anderthalb Jahrhunderten auf der Opernbühne seinen Platz hat, wenn auch nicht als Passion. Witzigerweise kam es hier zu einem pietistischen Missverständnis ganz anderer Art: Wagner wollte, dass sich die Sänger erst nach dem letzten Schlussakt vor dem Vorhang dem Applaus stellen sollten. Daraus zog man im Publikum den Schluss, dass es sich um das passionsübliche Applausverbot handelte (dabei geht es ja nur ums Verbeugen der Künstler). Und so war es lange Zeit verpönt und wurde unter Auszischen bestraft, wenn man nach dem ersten Akt klatschte.

Ab in die Kirche! Oder in den Konzertsaal?

Auch in heutigen Tagen hört man aber noch immer Klagelaute, es würde nach Passionen applaudiert werden, was eines religiösen Zeremoniells nicht würdig wäre. Und schon ist man bei der noch immer vielgeliebten Debatte, ob derartige Werke überhaupt in den weltlichen Konzertsaal gehören. Natürlich gilt da längst das Bonmot von Karl Valentin, dass bereits alles gesagt wurde, halt nur noch nicht von allen.

Doch in unserer europäischen Gesellschaft, deren derzeitige Tendenz schon recht lange ins Säkulare weist, haben solche vermeintlich veralteten Denkanstöße noch immer ihre Berechtigung. Ironischerweise können sie nämlich ein Türöffner sein für all jene, die sich für Barock-, Chor- oder welche Musik auch immer begeistern, denen aber das Gefühl der religiösen Ergriffenheit völlig fremd ist. Denn blickt man in die Programme all der österlichen Festivals und Musiktage, findet man erstaunlich viel Sakrales. Mal in Konzertsälen, mal in Innenhöfen, mal in Kirchen. Und es schadet sicher nicht, wenn auch Nichtchristen mal eine Handvoll Stunden auf Kirchenbänken zubringen und sich dem Zauber dieser besonderen Räume aussetzen. Ebenso wenig schadet es, wenn man dann auch mal beim Applaudieren böse angezischt wird, sei’s drum. Was aber durchaus passieren kann: dass Bachs oratorische Passion auch bei nichtgläubigen oder religiös indifferenten Menschen doch nicht nur am emotionalen Empfinden rührt, sondern zu einem sakralen Erlebnis wird. Man kann es ja einfach mal ausprobieren, sei es auf der Urlaubsreise oder daheim. Hier wie dort wird sicher eine „Johannes-Passion“ aufgeführt.

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