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Ukrainisches Institut: Gastbeitrag Volodymyr Sheiko

Europas bestgehütetes Geheimnis

Der General­direktor des Ukrainischen Instituts Volodymyr Sheiko über die reiche Musikkultur seines Landes, die jedoch im restlichen Europa kaum wahrgenommen wird.

vonVolodymyr Sheiko,

Im Frühjahr 2019 organisierte das Ukrainische Institut in Wien ein Konzert mit Werken von Komponisten aus beiden Ländern: Franz Schubert, ­Borys Liato­shynsky und Gerd Kühr. Lia­toshynsky ist einer der bemerkenswertesten ukrainischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Er trieb die professionelle Musik des Landes voran, experimentierte mit modernistischen, europäisch geprägten Formen und hatte großen Einfluss auf die Komponisten der folgenden Generationen.

Für dieses Konzert haben wir die dritte Sinfonie ausgewählt, ein bahnbrechendes Werk, das Liatoshynsky nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb. Anfang der fünfziger Jahre zensierte das totalitäre Sowjetregime die Sinfonie wegen „Formalismus“ und „Abweichung von der ideologischen Linie“ und zwang den Komponisten, den Schluss umzuschreiben. Soweit ich weiß, wurde bei diesem Konzert die Sinfonie in ihrer ursprünglichen Fassung zum ersten Mal außerhalb der Ukraine aufgeführt.

Das ORF Radio-Symphonie­orchester Wien unter der Leitung von Duncan Ward spielte das Stück ganz wundervoll, leidenschaftlich, respektvoll. Nach dem Konzert erfuhr ich, dass keines der Orchestermitglieder je zuvor von Liato­shynsky gehört hatte. Stellen Sie sich meine Überraschung vor: Sechzig hochprofessionelle Musiker aus West- und Mitteleuropa sind mit der musikalischen Tradition des flächenmäßig größten europäischen Landes nicht vertraut! Wie konnte das passieren?

Eine Art Außenseiter

Die Arbeit des Ukrainischen Instituts als Organisation für Kulturdiplomatie besteht darin, den Menschen in anderen Ländern die Vielfalt der ukrainischen Kultur zu vermitteln. Wie in diesem Fall fangen wir oft bei Null an. Aufgrund ihrer turbulenten Geschichte und ihrer unglücklichen Nähe zum imperialistischen Russland ist die Ukraine eine Art Außenseiter und, wie mein Kollege einmal sagte, „Europas bestgehütetes Geheimnis“. Die Aufgabe meines Teams ist daher, dieses Geheimnis zu lüften und die Musik-, Kunst-, Literatur-, Theater- und Filmwelt der Ukraine für Millionen von Kulturinteressierten in aller Welt zugänglich zu machen.

Das Ukrainische Institut, dessen Auftrag dem des Goethe-Instituts, des British Council oder des Adam-Mickiewicz-Instituts ähnelt, wurde 2018 gegründet, also wenige Jahre nach den Protesten auf dem Maidan (hierzulande nennen wir sie die „Revolution der Würde“), die die Ukraine veränderten und ihre europäische Identität und geopolitische Eigenständigkeit erneut bestätigten. Seit 2014 erlebt die ­Ukraine eine kulturelle Renaissance: Eine neue Künstler­generation wuchs heran, neue nationale Kultureinrichtungen entstanden, die kulturellen Beziehungen zu Europa und den USA wurden gestärkt, unser reiches kulturelles Erbe aus mehr als einem Jahrtausend wurde wieder gewürdigt.

Der Einmarsch Russlands und die tapfere, unermüdliche Gegenwehr der Ukraine machten mein Land zum Epizentrum der Weltpolitik und zum bestimmenden Thema der Schlagzeilen. Die Welt hat in den letzten Wochen mehr über die Ukraine erfahren als in einem ganzen Jahrhundert. Ich wünschte, dies wäre aus einem nicht so tragischen Anlass geschehen. Aber heute kann – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – kaum jemand die Tatsache infrage stellen, dass die Ukraine kulturell und historisch zu Europa, zur zivilisierten Welt gehört und schon immer gehört hat.

Das Unbekannte kennenlernen

Kulturelle Einrichtungen und Fachleute stehen an der Spitze der weltweiten Solidarität mit der Ukraine. Das Ukrainische Institut erhält ständig Anfragen von Filmfestivals, Theatern, Orchestern, Radiosendern und Verlagen, die um Partituren ukrainischer Komponisten, Empfehlungen für Dokumentar- und Spielfilme, neue Theaterstücke oder um Listen mit in andere Sprachen übersetzten Büchern bitten. Viele Unterstützer veranstalten Benefizkonzerte, um ihre Solidarität zu bekunden und Spenden für humanitäre Hilfe zu sammeln. Man entdeckt die Kultur wieder als ideales Medium, um das Unbekannte kennenzulernen.

Interessanterweise wird bei einigen dieser Konzerte klassische Musik sowohl von russischen als auch von ukrainischen Komponisten gespielt. Dies könnte verschiedene Gründe haben. Womöglich halten die Veranstalter diese beiden Kulturen immer noch nicht für verschieden genug und bringen sie daher instinktiv zusammen (auch wenn es unangebracht ist, Musik des Angreifers und des Angegriffenen bei derselben Veranstaltung aufzuführen). Vielleicht wissen viele aber auch schlicht zu wenig über ukrainische Komponisten (wir erinnern uns an das eingangs erwähnte Konzert). Oder die Musiker haben schlicht keinen Zugang zu Partituren von Werken ukrainischer Komponisten.

Jetzt ist die Gelegenheit für Musikliebhaber, einen wichtigen Teil des europäischen Musik­erbes zu erkunden. Und jetzt ist die Gelegenheit für Musikschaffende und Veranstalter, nicht mehr zum x-ten Mal Mussorgsky oder Schostakowitsch zu programmieren, sondern neues Repertoire zu entdecken: die einzigartige ukrainische Barockmusik und die sakralen Chorgesänge des 17. und 18. Jahrhunderts; die Musik der Belle Époque, die von alten Folkloremotiven beeinflusst ist; die Meisterwerke der Moderne von Stankowytsch und Sylvestrow; all jene Komponisten, die Teil der „Kiewer Avantgarde“ sind und von Schönberg, Cage und Lutosławski inspiriert wurden; Werke zeitgenössischer Komponisten, die mit ihren deutschen, österreichischen, französischen oder polnischen Vorbildern in Verbindung stehen. Wenn Sie mich fragen: Kultureller Dialog bedeutet auch Solidarität.

Übersetzung: Maximilian Theiss

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