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Interview Andris Nelsons

„Der Komponist ist der Diktator“

Der Dirigent Andris Nelsons über das Arbeiten im Traum, dirigierende Komponisten und die Fähigkeit zur Selbstkritik

vonArnt Cobbers,

Wenn das Wort Shooting Star auf einen Dirigenten zutrifft, dann auf Andris Nelsons. Mit 24 Jahren übernahm der studierte Trompeter als Chefdirigent die Lettische Nationaloper, mit 27 die Nordwestdeutsche Philharmonie Herford, mit 29 – als Nach-Nachfolger Simon Rattles – das City of Birmingham Symphony Orchestra. Mittlerweile dirigiert er regelmäßig an der Met, an Covent Garden und bei den Berliner Philharmonikern. Im Interview wirkt er ebenso freundlich, offen und auf dem Boden geblieben wie bei unserem ersten Gespräch vier Jahre zuvor.

Herr Nelsons, vor wenigen Jahren pendelten Sie zwischen Riga, Herford, Minden und Salzufflen, heute zwischen Birmingham, New York, Berlin und Wien. Was hat sich verändert?

An meinem Umgang mit der Musik hat sich nichts geändert. Aber je mehr man weiß und versteht, desto mehr merkt man, wie wenig man wirklich weiß. Das Leben wird komplizierter. Aber ich bin sehr glücklich. Ich kann mit den besten Orchestern und Opernhäusern der Welt arbeiten und mit einem sehr guten eigenen Orchester – das war immer mein Traum.

Bald werden sich alle Träume erfüllt haben. Ist das nicht auch beängstigend?

Das schwierigste ist nicht das Debüt, sondern die Wiedereinladung. Ich möchte die großen Orchester dirigieren und wieder eingeladen werden – und zwar weil sie wirklich mit mir Musik machen wollen. Mein größter Traum ist, mit den großen Orchestern der Welt regelmäßig Musik zu machen.

Was macht den Unterschied zwischen Herford und Birmingham, zwischen der Wiener Staatsoper und einem kleinen Haus?

Die Tradition und der Name spielen eine Rolle, die Tradition der großen Dirigenten, das Umfeld, aber natürlich auch die individuelle Qualität und Erfahrung der Sänger und der Musiker. Trotzdem gibt es – hoffe ich – keinen Unterschied, wie ich mit den Musikern arbeite. Die Liebe zur Musik sollte gleich groß sein, und alle wollen Musik machen, so gut sie können. Es war auch in Herford eine große Freude, Musik zu machen.

Ist die Arbeit mit einem großen Orchester einfacher?

Die Fähigkeiten, die das Concertgebouw-Orchester oder die Berliner Staatskapelle haben, sind einfach unglaublich. Da beginnt die Arbeit auf einem höheren Niveau, bei kleineren Orchestern muss man manchmal mehr an der Technik arbeiten. Darauf muss man sich einstellen. Aber man muss immer gut vorbereitet sein, wenn man sich vor ein Orchester stellt. Diese Arbeit hört nie auf. Man öffnet eine Partitur, die man zwei Jahre nicht dirigiert hat, und denkt: Ich muss wieder von vorn anfangen.

Aber Sie haben doch beim ersten Mal schon Bilder entwickelt, mit denen Sie die Musiker inspirieren.

Natürlich baue ich beim zweiten, dritten Mal auf dem auf, was ich beim ersten Mal erarbeitet habe. Aber ich füge immer wieder Neues hinzu. Meine Partitur ist voller Anmerkungen, und es werden immer mehr, man sieht immer weniger die Noten. Nachts träume ich manchmal, dass ich ein Stück dirigiere und denke: Oh, das ist interessant. Da geht es um die Atmosphäre oder auch um technische Dinge. Manchmal weiß man nicht, wie man phrasieren soll, soll man die zehn Takte oder doch eher die zwanzig Takte zusammenfassen. Und dann entdecke ich plötzlich im Traum: Da ist noch dieses eine Motiv, das hast du zu wenig beachtet, diese Farbe muss stärker herauskommen. Dann wache ich auf und denke: So muss es sein, so funktioniert es. Und schreibe es sofort auf.

Mit zunehmender Erfahrung wird doch sicherlich vieles einfacher.

Man weiß irgendwann, was man erwarten kann und wie man das Orchester, diesen Tanker, manövrieren muss. Wenn man zum Beispiel zu viel vorgibt und arbeitet, funktioniert es auch nicht. Da vertraut man irgendwann auch seiner Intuition, dass man weiß, bestimmte Dinge würden heute in der Probe nicht funktionieren, die verschiebe ich lieber auf morgen und arbeite heute an etwas anderem. Diese Erfahrung gewinnt man. Aber man kann nie sagen: Was mache ich morgen? Rosenkavalier? Das hab ich drauf. Vom Spieltechnischen könnten wir sofort loslegen. Aber dann wird es nicht gut. Dann wird es Routine in einem schlechten Sinne, die man hört. Ich muss das Leben von Zarathustra führen, um Zarathustra zu dirigieren. Ich muss mich in die Alpen versetzen, um die Alpensinfonie zu dirigieren. Das geht nicht nur mit Technik und Erfahrung. Ich muss mich immer wieder aufs Neue in diese Stimmung hineinarbeiten. Und dann kommen automatisch immer wieder neue Ideen dazu.

Sie haben ein sehr breites Repertoire. Spüren Sie bereits einen Druck, sich auf bestimmte Dinge zu konzentrieren?

Meine Hauptrichtungen sind die russisch-slawische und die deutsche Sinfonik. Als Gastdirigent ist man nicht so frei in seiner Repertoirewahl. Da gibt es Wünsche und Erwartungen des Orchesters, und natürlich ist es wichtig, was der Chefdirigent selbst dirigiert. Beim ersten Mal wird man vom Orchester genau beobachtet, und wenn sie einen wieder einladen, haben sie meist einen Wunsch, welches Repertoire sie gern machen würden, weil sie meinen, dass es in dieser Kombination besonders interessant wäre. Man muss ein breites Repertoire haben, um sich als Dirigent zu entwickeln. Aber man kann nicht alles gleich gut machen. Und leider ist es nicht so, dass man das, was man am liebsten mag, auch am besten kann. Ich mag zum Beispiel Barockmusik sehr, ich habe viel Barockmusik gesungen. Aber ich werde sie vermutlich nie dirigieren – ich habe das Gefühl, das kann ich nicht gut. Man muss sehr sorgfältig auswählen, was man dirigiert. Das allerwichtigste ist, dass man etwas ehrlich und gut macht. Wenn man mich fragt, was ich am besten kann, das könnte ich nicht beantworten. Ich liebe so viele Dinge.

Wem vertrauen Sie da?

Die Reaktion des Publikums ist sehr wichtig. Aber der wichtigste Indikator ist das Orchester. Da sitzen hundert hochqualifizierte Menschen, die enorm viel wissen. Deren Urteil vertraue ich. Nicht in der Form, dass sie hinterher zu mir kommen und sagen: Das war toll! Sondern es geht um die Chemie in bestimmten Stücken. Da entsteht eine Energie, und man merkt einfach, ob es wirklich gut funktioniert oder nicht ganz so gut.

Können Sie gut mit den enormen Erwartungen an Sie umgehen?

Druck gehört zum Dirigentenleben dazu, der ist einfach da, wenn man sich vor hundert Leute stellt. Aber dann beginnt man an der Musik zu arbeiten und vergisst alles, sogar in gewisser Weise sich selbst. Ich bin eigentlich ein schüchterner Mensch. Aber Musik öffnet einen. Musik handelt vom Leben, der Liebe, dem Tod usw. Um miteinander Musik zu machen, müssen wir uns gefühlsmäßig öffnen. Wenn man als junger Dirigent vor ein Spitzen-Orchester tritt, sind die Erwartungen natürlich groß. Aber es ist eben nicht so, wie wenn man sich einen Mercedes kauft, der dann auch funktionieren muss. Ohne dass sich beide Seiten öffnen, kann man nicht Musik machen, man muss zusammenarbeiten wollen. Und das nimmt viel Druck weg.

Spüren Sie manchmal Arroganz?

Arroganz habe ich zum Glück noch nie erlebt. Man muss ehrgeizig und auch in gewisser Weise egoistisch sein, um professionell Musik zu machen. Aber das darf nie die Musik überlagern oder das Ego des Komponisten. Der Komponist ist der Diktator. Richard Strauss gibt uns vor, was wir zu spielen haben.

Strauss befiehlt – Sie folgen blind?

Man muss die Regeln befolgen, die die Partitur aufstellt. Aber das allein reicht natürlich nicht. Man muss die Partitur mit Phantasie und Ideen zum Leben erwecken, und das geht nur mit einem Gefühl der Freiheit. Es gibt aber große Unterschiede zwischen den Komponisten. Mahler zum Beispiel wusste genau, was in einem Dirigenten vorgeht, weil er selbst Dirigent war. Wenn er befürchtete, der Dirigent könnte langsamer werden, schrieb er: Nicht schleppen. Das ist verrückt, weil man an diesen Stellen tatsächlich denkt, hier könnte man langsamer werden. Und dann steht da: Nicht schleppen. Andere Komponisten haben so etwas nicht notiert. Weil sie sich das nicht getraut haben. Oder es nicht besser wussten. Oder weil sie dachten, das müssten die Musiker selbst merken. Bruckner etwa wusste genau, was er wollte, aber er hatte nicht dieses Selbstvertrauen wie Wagner. Bruckner wie Wagner zu dirigieren, wäre verkehrt. Man muss die Komponisten und ihre Charaktere gut kennen.

Komponisten können auch Fehler machen.

Natürlich. Aber zunächst einmal würde ich nie denken, der Komponist wusste nicht, was er tat. Sondern: Ich habe es noch nicht verstanden. Und ich sollte versuchen, es zu verstehen. Das Adagietto aus der Fünften macht man normalerweise sehr langsam. Es gibt eine Aufnahme mit Mahler am Klavier, da spielt er es sehr viel schneller. Und wir sollten darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoller ist, es wie Mahler zu machen. Im Endeffekt liegt die Entscheidung natürlich bei mir. Da spielen viele Faktoren zusammen: die Persönlichkeit des Komponisten, der Stil, die Aufführungstradition, das Ergebnis der Notenanalyse und nicht zuletzt die eigene Intuition.

Haben Sie eine Strategie dafür, nicht abzuheben?

Meine Fähigkeit zur Selbstkritik ist sehr groß. Sie darf nicht so groß werden, dass sie einen verunsichert. Aber man muss sich immer wieder analysieren und aus seinen Fehlern lernen und überlegen, was man beim nächsten Mal besser machen kann. Und dass ein Konzert gut war, bedeutet nicht, dass auch das nächste gut wird. Was wir tun, ist Teamwork. Ich bin der Dirigent, aber ich stehe als Mensch nicht über den Musikern. Das muss einem immer bewusst sein.

Ist Dirigieren ein Traumberuf?

Unbedingt. In der Probe arbeitet man an der Chemie, man versucht eine Energie zu gewinnen. Das ist viel Arbeit. Aber wenn man dann im Konzert diese Energie abrufen und vermehren und die Musik aufblühen lassen kann, dann ist es die pure Freude.

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