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Blickwinkel: Markus Korselt

„Ich möchte mein echtes Leben zurück“

Das Stuttgarter Kammerorchester feiert in diesem Jahr sein 75-jähriges Jubiläum. Markus Korselt, Intendant und künstlerischer Leiter des Orchesters, über die Feierlichkeiten, Proben in Zeiten von Corona und die Relevanz klassischer Musik.

vonIrem Çatı,

Herr Korselt, in diesem Jahr feiert das Stuttgarter Kammerorchester sein 75-jähriges Jubiläum. Wie hat sich das Orchester in dieser Zeit entwickelt?

Markus Korselt: Das Wort „Pioniergeist“ hängt sehr eng mit dem Stuttgarter Kammerorchester (SKO) zusammen. Das erste Konzert fand wenige Monate nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Leitung des legendären Gründungsdirigenten Karl Münchinger statt. Damals war Stuttgart noch zerbombt, aber die Menschen wollten unbedingt ein Kammerorchester gründen und Musik machen. Diese Hingabe hat sich schnell herumgesprochen, und so wurde das SKO eine weltweit bekannte Marke. Das hängt auch mit einer völlig neuen Art des Spielens zusammen, die Münchinger mit dem Ensemble ins Leben gerufen hat. Sie haben den großen, romantischen Klang, der bis dahin vorherrschte, über Bord geworfen und stattdessen schlank instrumentiert. Das kam sehr gut an und diente als Vorbild für andere Ensembles, etwa die Academy of St Martin in the Fields. Das SKO war auch als erstes deutsches Orchester in China, Nepal und der Sowjetunion. Bis heute machen wir jährlich zwei bis drei interkontinentale Reisen, bei denen wir auch nicht unbedingt einen berühmten Solisten brauchen. Die Zuschauer, speziell in Asien, wollen das SKO hören! Wir sind auch sozial sehr engagiert und geben zahlreiche kostenlose Open-Air-Konzerte an sozialen Brennpunkten in Stuttgart. Ich kann sagen, dass wir wirklich mit der gleichen Hingabe in der Hamburger Elbphilharmonie wie unter der Stuttgarter Paulinenbrücke spielen.

Was ist für das Jubiläum geplant?

Korselt: Am 18. September feiern wir kalendarisches Jubiläum und möchten hierfür mit unserem Chefdirigenten Thomas Zehetmair das erste Konzertprogramm wieder aufführen: barocke und frühbarocke Werke von Antonio Vivaldi, Georg Friedrich Händel und Hermann Schein. Das ist ein sehr spezielles Programm – das SKO zeichnet aber aus, sich nicht nur auf eine Epoche zu spezialisieren, sondern den dramaturgischen Faden von Barock bis Elektro-Musik spannen zu können. Für den 19. September ist ein großes Jubiläumskonzert mit Werken geplant, die eine besondere Wichtigkeit für das SKO haben. An diesem Abend kann das Orchester zeigen, wo seine Tradition liegt und wie es diese bis heute weiterentwickelt hat. Ursprünglich wollten wir an beiden Abenden Gespräche mit Zeitzeugen führen und unser Publikum zu einem großen Empfang und festlichem Zusammenkommen einladen, aber das wird Corona-bedingt wohl nicht möglich sein. Zu guter Letzt wird es einen etwa 200-seitigen Jubiläumsband mit Fotos von Konzerten und Reisen des SKO der letzten zehn Jahre geben. Diese schönen, oft auch überraschenden Bilder sollen das Jubiläum sichtbar machen und  unserem Publikum einen intimen Einblick ins Orchesterleben ermöglichen.

Wie organisiert sich ein Orchester in so einer Zeit?

Korselt: (lacht) Es gibt hier in der Tat eine merkwürdige Diskrepanz. Einerseits durften die Musiker sei Mitte März keinen Strich tun, geschweige denn auftreten. Andererseits hatten einige Kollegen aus dem Management und ich so viel zu tun wie selten zuvor. In einer sehr schwierigen Zeit verfolgt uns seit zwei Monaten das Glück, da ich fast alle Projekte finanziert und Anträge bewilligt bekomme. Jetzt, da es weniger Tagesgeschäft gibt, habe ich mehr Zeit, solche Projekte zu verfolgen und zu realisieren, und das macht sich in der Erfolgsquote bemerkbar. Uns stehen also tolle Konzertreisen und die Zusammenarbeit mit fantastischen Solisten bevor. Aber auch Digitalisierung spielt eine große Rolle. So stehen auch Projekte mit Künstlicher Intelligenz und Virtual Reality an. Das kann ein Hologrammkonzert sein, aber auch die Möglichkeit für das Publikum, sich virtuell im Konzert neben seinen Lieblingsmusiker zu setzen.

Das Stuttgarter Kammerorchester
Das Stuttgarter Kammerorchester

Wie halten die Musiker untereinander Kontakt und motivieren sich?

Korselt: Wir haben beispielsweise ein sehr aufwändiges Videoprojekt realisiert und dafür den Bollywood-Song „Jai Ho“ aufgenommen. Hierfür wurden alle Stimmen der Musiker, die sie einzeln zu Hause aufgenommen haben, zu einem Ganzen zusammengeführt. Wenn Sie fragen, warum wir uns eines Bollywood-Songs angenommen haben: Wir haben eine besondere Beziehung zu Indien! Im letzten Jahr haben wir eine große Tour durch das Land gemacht und zusätzlich Education-Projekte mit Kindern und Jugendlichen, die in sehr schwierigen Verhältnissen leben, gespielt – darunter auch diesen Song gemeinsam einstudiert und aufgeführt. Das nun online zusammen mit den Kindern in Mumbai zu wiederholen, war echte Arbeit, aber die beste Motivation, weil es etwas Sinnstiftendes war. Ich schicke außerdem wöchentliche Updates an alle, in denen ich von Projekten und Tourneen erzähle, die verwirklicht werden können, damit die Musiker wissen, dass es weiter geht.

Wie werden Sie die ersten Proben angehen?

Korselt: Ich werde für die ersten Konzerte ein oder zwei Proben mehr ansetzen, denn nach so einer langen Spielpause müssen sich die Musiker erst wieder finden. Bis jetzt halten sie sich fit und machen auch gemeinsam Kammermusik. Wie es dann aber als ganzes Orchester sein wird, weiß ich ehrlich gesagt noch nicht. Ich weiß aber, dass jeder auf die erste gemeinsame Probe hinfiebert. Wir wollen einfach nur spielen, und wenn wir das nicht dürfen, ist das ein ganz komischer Zustand.

Was fehlt zurzeit am meisten?

Korselt: Es sind sehr stille Monate für mich, und das ist ganz merkwürdig. Wir warten sehnlichst darauf, diese Stille wieder mit Klang und Musik füllen zu können. Es fühlt sich alles unwirklich an, und ich möchte mein echtes Leben zurück. Und wenn ich den zahlreichen E-Mails unseres Publikums vertrauen darf, wartet es auch wirklich drauf, dass es weitergeht. Da merkt man, dass Musik systemrelevant ist. Wenn sie zu lange fehlt, dämmert es den meisten, dass sie kein Luxusgut ist, sondern zu unserem Leben und zu unserer Kultur dazugehört.

Das SKO spielt „Jai Ho“ mit Kindern und Jugendlichen der Mehli Metha Foundation Mumbai:

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Mehr Informationen

Das SKO spielt #LikeABosch:

https://youtu.be/Cu-OaEH_1ww

concerti-Tipp:

Stuttgarter Kammerorchester, Thomas Zehetmair (Leitung)
2.8.2020, 19:00 Uhr
Liederhalle Stuttgart (Beethovensaal)

Programm:

J. S. Bach: Violinkonzerte a-Moll BWV 1041 & E-Dur BWV 1042
Beethoven: Streichquartett f-Moll op. 95 „Serioso“ für Streichorchester

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