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Blickwinkel: Oliver Wille

„Ein Konzert muss auch ein Abenteuer sein“

Die Sommerlichen Musiktage Hitzacker eröffnen vom 30.7. bis 7.8 besondere „Zeit.Räume“. Intendant Oliver Wille über die etwas andere Konzertwelt und stetige Innovationen beim ältesten Kammermusikfestival Deutschlands.

vonMaximilian Theiss,

Zur DNA der Sommerlichen Musiktage Hitzacker gehören seit jeher Innovation und Aufbruch. Wohin brechen die Musiktage in diesem Jahr auf?

Oliver Wille: Hoffentlich weiterhin in eine Konzertwelt, die ein bisschen anders ist, die mit neuartigen Programmen lockt, welche die Künstlerinnen und Künstler selbst gestalten. Seit ich hier Intendant bin, gebe ich jeder Festivalausgabe ein weitgefasstes Motto – in diesem Jahr „Zeit.Räume“ – und suche mir dann Leute aus, von denen ich glaube, dass sie selbst dieses Motto mit Inhalt füllen können. Es gibt keine Vorgaben, welche Stücke gespielt werden sollen, stattdessen bleiben wir stets im Gespräch darüber, wie solche Konzerte dann aussehen können. Und so kommt dann beispielsweise Poulencs „Die menschliche Stimme“ aufs Programm, eine Oper für eine Sängerin, oder es entsteht eine Lied-Akademie, die sich „Tausend Jahre Lied“ zum übergeordneten Thema gemacht hat. Das sind keine Konzerte von der Stange, sondern Produktionen, die aus den inneren Bedürfnissen der Künstlerinnen und Künstler entstanden sind.

Wie bringen Sie sich da von Seiten der Musiktage ein?

Wille: Wir diskutieren jedes Programm: Wenn manches zu brav ist, suchen wir beispielsweise eine überraschende Wendung. Oder umgekehrt ist es mir auch wichtig, dass in experimentelleren Programmen auch ein Komponist erklingt, der dem Publikum vertraut ist. Es gibt ein schönes Zitat des russischen Dichters Ossip Mandelstam: „Verse braucht das Volk, unverständlich und vertraut zugleich“ – eigentlich ein wunderbares Motto für die Sommerlichen Musiktage. Ein Konzert muss auch ein Abenteuer sein, bei dem man sich ein bisschen anstrengen muss, um belohnt zu werden. Momentan stehen wir ja alle vor der Herausforderung, das zögerliche Publikum wieder in die Konzertsäle zurückzuholen. Ich selbst finde nicht, dass wir unbedingt immer ein neues Publikum brauchen. Stattdessen müssen wir auch die Menschen, auf die wir jahrelang gezählt haben, an die Hand nehmen und ihnen zeigen, dass ein ungewöhnliches Konzert genauso ein wunderbares Erlebnis sein kann wie das ihnen bereits Bekannte.

Festivals werden ja schon Jahre im Voraus geplant, insofern werden Sie sich bestimmt schon vor der Pandemie Gedanken über die Festivalausgabe 2022 gemacht haben.

Wille: Die Grundgedanken dazu sind tatsächlich erst während der Pandemie entstanden. 2020 hatten wir das große Glück, dass wir das Festival durchführen konnten. Als nach der monatelangen Stille endlich die ersten Töne wieder live vor Publikum erklangen, herrschte eine unglaubliche Ergriffenheit im Saal. Leute fingen an zu weinen – bei einem Schönberg-Stück! Diese physische Erfahrung von Klang war einfach überwältigend. Es war, als würde die Zeit stillstehen. Da dachte ich mir: Hier in diesem Raum der Musik die Zeit so zu erfahren, das muss mein Motto werden, also die besonderen Momente, in denen die Zeit eine Pause einlegt, in einem Festival zu vereinen – auch wenn solch ein Vorhaben völlig utopisch ist.

Können solche besonderen Momente auch im virtuellen Raum stattfinden – mit anderen Worten: Ist für Sie vorstellbar, dass Veranstaltungen der Sommerlichen Musiktage über das Internet ihr Publikum finden?

Wille: Nein. Das heißt – lassen Sie es mich so sagen: Ich möchte es zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Wenn sich in Zukunft daraus interessante, innovative Konzertformate entwickeln – wunderbar! Neuartige Techniken ins Konzertleben einzuführen ist ein spannendes Feld, aber es muss einen Sinn ergeben. Letztes Jahr hatten wir beispielsweise ein Virtual Reality-Projekt zu Musik von Schubert. Das war wahnsinnig spannend. Aber unsere Konzerte einfach nur ins Wohnzimmer zu streamen – sowas interessiert mich nicht.

Über den Raum als Teil des Mottos haben wir eben gesprochen, bleibt noch die Zeit. Sie haben vorhin schon die Liedakademie erwähnt, die unter dem Überbau „Tausend Jahre Lied“ steht. Noch weiter lässt sich so ein Zeitbegriff kaum dehnen…

Wille: Auf diese Idee kam der Pianist Jan Philip Schulze, der Mentor unserer diesjährigen Lied-Akademie. Als wir über „Zeit.Räume“ als übergeordnetes Thema der kommenden Musiktage sprachen, kam er sofort auf die Idee, das Genre des Liedes der letzten tausend Jahren zu beleuchten. Der typische Liederabend beschränkt sich ja fast immer auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert. Dabei wurde schon immer gesungen! Wie das Abschiedskonzert der Lied-Akademie wird, kann ich jetzt noch gar nicht sagen. Aber das ist ja gerade das Spannende an Hitzacker: Sängerinnen und Sänger bringen kofferweise Noten mit, und innerhalb von vier Tagen Akademie entsteht ein Konzert.

Bewusst offengehalten ist auch das Eröffnungskonzert, ein spontanes Zusammenspiel von Wortkunst, Performance und Musik, bei dem über die Reihenfolge der einzelnen Werke kurzfristig entschieden wird. Sie selbst sind an diesem Abend als Geiger im Kuss Quartett zu erleben.

Wille: Im Rahmen eines Stipendiums sollten wir zukunftsweisende Formate entwickeln. Über mehrere Proben hinweg sind wir, ein Kollektiv aus Quartett, Tänzerin und Tänzer, Schlagzeuger und Dichter, dann auf die Idee gekommen, einzelne Module – aus gemeinsamen Collagen – einzustudieren, die wir dann je nach Ort und Konzertidee zusammensetzen können. Die Module selbst sind keinem Thema untergeordnet, haben für sich genommen auch keinen roten Faden, geschweige eine Dramaturgie. Die entsteht erst, wenn wir die einzelnen Elemente mit einer Choreographie – das kann unsere Tänzerin besonders gut – zusammenbauen.

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