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Blind gehört Matthias Pintscher

„Ich habe keine Ahnung was das ist“

Der Dirigent und Komponist Matthias Pintscher hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

vonThomas Schacher,

Matthias Pintscher ist eine der seltenen Doppelbegabungen, die sowohl als Komponist wie als Dirigent Schlagzeilen machen. So auch jüngst beim Lucerne Festival, als der Vielbeschäftigte nicht nur das Ensemble intercontemporain – dessen Leiter er seit 2013 ist – sondern auch das von Boulez gegründete Lucerne Festival Academy Orchestra dirigierte. Und zwischen zwei Proben dennoch Zeit für unser „Blind gehört“-Interview gefunden hat, bei dem er mindestens so gerne über die Kompositionen wie über die Interpretationen sprach.

 

Eötvös: Sonata per 6

Ensemble Linea, Jean-Philippe Wurtz (Leitung)

2014. Budapest Music Center

  

Ich habe keine Ahnung, was das ist. Es speist sich aus vielen Erben: Ich dachte zuerst bei den Snare Drums des Anfangs, das sei ein Stück von Matthias Spahlinger – aber dann kamen ganz andere Schichten. Es ist eine Musik, die sehr von Bartók beeinflusst ist, aber auch die Farbigkeit von Debussy besitzt und sogar Jazzelemente enthält. Diese Musik groovt, aber mit harten Intervallen. … Eötvös? Was, das ist die Sonata per 6 mit dem Ensemble Linea? Dann wahrscheinlich unter der Leitung von Jean-Philippe Wurtz. Peter Eötvös hat mir das Dirigierhandwerk beigebracht, soweit man das überhaupt beibringen kann. Im Jahr 2014 war Eötvös zufällig in New York, als ich bei den New Yorker Philharmonikern debütierte. Er kam zu jeder Probe und hat mich anschließend beim Kaffee immer zur Seite genommen und mir, dem 43-Jährigen, noch Schützenhilfe und Kritik gegeben! Und vor kurzem hat er mich eingeladen, in Budapest in einem neugegründeten Peter-Eötvös-Center eine Masterclass zu geben über das dialektische Zusammenwirken von Dirigieren und Komponieren.

Pintscher: Hérodiade Fragmente

Claudia Barainsky, NDR-Sinfonieorchesterk, Christoph Eschenbach (Leitung)

2001. Teldec

  

Ja, das kenn’ ich natürlich! Das ist Christine Schäfer mit Abbado und den Berlinern. Nicht? Dann ist es Claudia Barainsky mit Eschenbach. Die Stimme von Claudia hat sich verändert, ist inzwischen wärmer geworden. Vor wenigen Jahren habe ich sie in New York als Marie in Zimmermanns Soldaten gehört. Sie sang dort mit einer glühenden Expressivität. In meiner Komposition ist die Titelfigur sowohl die Mutter als auch die Tochter, Herodias und Salome. Auch bei Mallarmé, der Textvorlage, sind die beiden Rollen miteinander verschmolzen. Ich fand es spannend, dieser Janusköpfigkeit nachzuspüren … Muss Salome kalt sein? Das ist nur ihre Außenseite, im Innern ist sie eine glühende Figur mit einer maßlosen Sexualität, die aus Frustration und Eingrenzung genährt wird … Christine Schäfer hat das Stück uraufgeführt. Was die Unterschiede zwischen beiden Interpretinnen sind? Christine war, wie Claudia, eine Schülerin von Aribert Reimann. Beide haben virtuoseste Stimmen mit großem Ambitus und einer makellosen Technik. Christine hat sich in ihrer Entwicklung mehr dem Repertoire zugewandt, während Claudia mehr oder weniger im Zeitgenössischen geblieben ist.

Beethoven: Sinfonie Nr. 4, B-Dur, 4. Satz

Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim (Leitung)

2000. Teldec

  

Wer könnte denn das sein? Das Tempo ist gar nicht so flott … weit weg von der historischen Aufführungspraxis … ich würde sagen, es ist vom Stil und der Aufnahmetechnik her nicht eine ganz junge Aufnahme. Für mich ist da wenig Fokus im Blech: Wenn man diese Beethoven-Sinfonien etwa mit der Deutschen Kammerphilharmonie unter Paavo Jäärvi hört, so ist das hier auf der ganz anderen Seite. Mir gefällt aber bei diesem Satz, dass es hier eine Poesie gibt, die oft bei Beethoven herausgenommen wird. Da wird dann oft schon der Strawinsky vorbereitet. Hier gibt es den Mut, die Pulsation des Hintergrundes mit sehr liedhaften Melodien zu kombinieren. Das gefällt mir … Was, Barenboim? Der große Poet! Ein gutes Tempo, das auch das Fagott am Ende noch spielen kann.

  

Boulez: Notations II

Orchestre National de Lyon, David Robertson (Leitung)

2002. Naïve/Montaigne 

   

Das ist schnell, vermutlich dirigiert Boulez selber. Wenn es nicht Barenboim mit dem West-Eastern Divan Orchestra ist …  nein, es ist Boulez selbst. Allerdings ist bei diesem schnellen, objektiven Satz der Dirigent schwer zu erkennen … Wir machen das ganz anders. Wir arbeiten sehr viel an den verschiedenen Schichten. Das sind ja letztlich orchestrierte Akkorde, die Bewegung findet innerhalb eines Akkordfeldes statt. Man hört in einem statischen Zustand unerhörte innere Bewegungen, bevor sich das Ganze zum nächsten Akkord verschiebt. Da gibt es drei verschiedene Artikulationsmodelle, die wir übereinander schichten. Das ist wie in der Malerei, etwa wie bei Monet. Wenn man nahe an das Bild herangeht, entdeckt man in einem Qua­dratzentimeter 15 verschiedene Farben. Diese Notations sind für mich eine Bibel der Orchestration.

Manoury: Fragments pour un portrait, 1. Satz

Ensembke Intercontemporain, Susanna Malkki (Leitung)

2009. Kairos

  

Das ist ein später Strawinsky, aber ich weiß nicht genau was … Nein? Ein Franzose? Dann vielleicht Manoury oder Dalbavie … Manourys Fragments? Und wer spielt da, etwa wir, das Ensemble intercontemporain? Ich wollte nämlich gerade sagen: eine super Oboe. Ich habe das Stück noch nie dirigiert, aber das kommt jetzt in dieser Spielzeit in der großen Philharmonie von Paris … jetzt wär’s kein Strawinsky mehr. Aber diese Passagen, die so wiederholt und verlängert werden, das kommt von Strawinsky … Jetzt höre ich unser Ensemble, den Oboisten, die Fagottistin: Was die Franzosen haben, ist diese wahnsinnige Präzision und den Sinn für den Reichtum des Klanges. Das rührt auch von der perfekten Intonation her. Susanna Malkki, die das Ensemble von 2006 bis 2013 leitete, hat es mir in perfektem Zustand übergeben. Ich habe das Repertoire erweitert, indem ich die neuen Stücke vermehrt zum Repertoire des 20. Jahrhunderts in Bezug setze.

Wagner: Der fliegende Holländer, Ouvertüre

Royal Concertgebouw Orchestra, Andris Nelsons (Leitung)

2014. RCO

  

Was ist denn das? Das ist kein Wagner, oder? Doch? Ist das „Rienzi“? … Aha, Der fliegende Holländer: Den kenne ich kaum. Mein Verhältnis zu Wagner hat sich noch nicht herausgebildet. Ich habe die Wesendonck-Lieder und das Siegfried-Idyll oft aufgeführt. Da ich im Moment keine Opern dirigieren möchte, weil dies so viel Zeit im Kalender in Anspruch nimmt, ist dies ein Terrain, das ich mir noch gar nicht erschlossen habe. Aber mein größtes Interesse gälte dem Parsifal … Das ist Nelsons mit dem Concertgebouw? Der Ausschnitt ist fantastisch gespielt. Nelsons ist ein Zauberer, der in einem Orchester unbeschreibliche Energien freisetzen kann.

 Saint-Saëns: Violinkonzert Nr. 3, h-Moll, 1. Satz

 Renaud Capuçon (Violine), Orchestre philharmonique de Radio France, Lionel Bringuier (Leitung)

 2013. Erato

   

Das erkenne ich schon beim Paukenwirbel! … Die Einleitung mit diesen Nachschlägen im Orchester ist immer schwer … ich glaube, das ist sogar unsere Aufnahme, das ist Julia Fischer … Nein? Es ist ein sehr schlanker, sympathischer Geigenklang. Bei den Konzerten von Saint-Saëns, auch bei den Klavierkonzerten, gibt es schon so viel Farbe und Esprit in der Musik, dass der Interpret nicht noch zusätzliche Schichten von Ausdruck hinzugeben sollte. Das hier gefällt mir sehr, es ist schlank, virtuos, hell. Der Orchesterklang ist bei Saint-Saëns immer sehr dunkel und schwer, so dass der Solopart möglichst durchsichtig sein muss … was? Das ist Capuçon? Der hat gerade mit den Berliner Philharmonikern mein Geigenkonzert „mar’eh“ gespielt.

Strawinsky: Der Feuervogel, Introduction

 BBC Symphony Orchestra, Pierre Boulez (Leitung)

 2005. Sony Classical (Remake)

   

Die Pizzicati des Anfangs sind viel zu laut. Strawinsky hat nicht genau vorgeschrieben, wer pizzicato und wer arco spielt. Ich teile die Pizzicati immer einem der hinteren Pulte in den Kontrabässen zu, damit sie nicht so vordergründig sind. Das hier gefällt mir gar nicht … aha, das ist das ganze Ballett, der komplette Feuervogel. Es ist alles wahnsinnig schnell, gerade in den langsamen Teilen … Was, Boulez mit dem BBC-Orchester? Lange ist es her! Das muss aus den sechziger oder siebziger Jahren stammen. Ich habe Boulez mit dem Feuervogel zweimal erlebt: Da hat sich seit dieser frühen Aufnahme viel verändert. Die Musik schwebt, die Tempi sind langsamer und geben ihr den nötigen Raum. Boulez ist im Verlauf der Zeit in allen Stücken bei den langsamen Passagen immer langsamer, bei den schnellen aber immer schneller geworden. Die Mitte ist fast ein bisschen verschwunden, sogar bei seinen eigenen Notations. Altersmilde? Es ist wohl die Einsicht, dass die Akustik des Raumes und der Charakter eines Orchesters in die Interpretation einbezogen werden müssen. Solche Dinge spielten beim frühen Boulez noch nicht diese Rolle. 

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