Startseite » Interviews » „Ich hatte als Vorbild immer die bildende Kunst“

Interview Sasha Waltz

„Ich hatte als Vorbild immer die bildende Kunst“

Sasha Waltz über das Zusammenspiel und den steten Dialog der Künste beim Tanz, ihre neueste Choreografie in Berlin und über wegweisende Entscheidungen.

vonDagmar Ellen Fischer,

Sasha Waltz gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Choreografinnen. Der Name ihrer vor rund dreißig Jahren gegründeten Company „Sasha Waltz & Guests“ ist interdisziplinäres Programm: Sie sucht die kreative Auseinandersetzung mit Kolleginnen und Kollegen anderer Kunstsparten, choreografiert für Museen, weiht die Hamburger Elbphilharmonie tanzend ein und bringt schließlich sogar den Tanz zurück zur Oper.

Mit welcher Musik sind Sie aufgewachsen – gibt es besonders prägende Erinnerungen?

Sasha Waltz: Meine Eltern haben sowohl Klassik gehört als auch südamerikanische Musik aus der Jugend meines Vaters in Argentinien, also Volksmusik und argentinische Tangos der vierziger und fünfziger Jahre. Mein Vater hat auch Jazz gehört, das hat mich ebenfalls sehr geprägt. Ich erinnere mich an meine Eltern, wie sie gemeinsam Tango tanzen. Seinerzeit gab es keine CDs, es wurden alte Schallplatten aufgelegt. Außerdem hat mein Vater viel gesungen, Schlager oder südamerikanische Melodien. Ich habe das im Ohr, dass mein Vater eigentlich immer irgendein Lied gesummt oder gesungen hat.

Erlebten Sie je eine Phase des Konflikts, in dem Sie sich zwischen einer Karriere als Tänzerin oder als Choreografin entscheiden mussten?

Waltz: Einen Konflikt kann ich das nicht nennen. Es wurde mir irgendwann klar, dass ich besser als Choreografin arbeiten kann, wenn ich nicht selbst mittanze. Und je größer die Stücke und je umfangreicher die Besetzungen wurden, desto mehr brauchte ich die Übersicht und den Außenblick. Nach der Geburt meiner Kinder war es für mich eine klare Entscheidung, mich auf meine Arbeit als Choreografin zu konzentrieren. Auch wenn das noch in mir nachschwingt und es mir auch gefehlt hat, als Tänzerin zu arbeiten und mit meinem Körper so bewusst in Beziehung zu sein und mich auszudrücken, wie man es als Tänzerin kann – ganz anders als als Choreografin.

Teamwork und interdisziplinäre Projekte zeichnen von Anfang an Ihre Arbeit aus. Gab es dafür Vorbilder?

Waltz: In den neunziger Jahren wirkte ich in einem sehr spannenden Projekt von Mark Tompkins mit, eines amerikanischen Choreografen, der in Frankreich lebt: „La Plaque tournante“ war ein interdisziplinäres Werk, in dem Tompkins unterschiedliche Künstler zusammenbrachte, das fand ich sehr inspirierend. Ich hatte als Vorbild immer die bildende Kunst, das lag vielleicht auch daran, dass ich schon als Jugendliche bildende Kunst machen wollte, deshalb war der visuelle Aspekt für mich immer wichtig, wie auch die Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern oder Architekten. Und natürlich gab es Werke, die ich als sehr inspirierend wahrgenommen habe, zum Beispiel von der US-amerikanischen Choreografin Trisha Brown, die in den sechziger Jahren mit bildenden Künstlern und Komponisten zusammenarbeitete und die für mich auch als Choreografin Vorbild war.

„Die Oper zum Tanzen zu bringen“ hat sich in Bezug auf Ihre Arbeit ebenso etabliert wie die Bezeichnung „Choreografische Oper“ als dem von Ihnen begründeten Genre. Wie kam es 2005 dazu, Oper neu zu denken?

Waltz: Ich wurde von Peter Mussbach gefragt, an der Staatsoper Berlin eine Oper zu inszenieren, und ich entschied mich für Purcells „Dido and Aeneas“. Von Anfang an stand für mich im Vordergrund, dass Tanz nicht nur als Intermezzo zwischen den Akten oder als Unterhaltung vorkommen soll, sondern als tragendes Element und erzählerische Linie, die den Inhalt der Oper transportiert. So entstand die Idee des Gesamtkunstwerks, das sich auch auf den Tanz ausweitet, in dem die Charaktere von den Tänzern genauso dargestellt werden können wie von den Sängern. Wichtig war für mich, die Hierarchie in der Oper aufzulösen, so dass alle Elemente gleichberechtigt nebeneinander einen gemeinsamen Körper bilden, der ein Werk zum Strahlen bringt. Vergleichbar mit einem Organismus, bei dem man auch nicht sagen kann, welches Organ wichtiger ist – das Herz, die Lunge oder die Niere? Man braucht alle Teile, um einen funktionsfähigen Körper zu haben.

Wie unterscheidet sich Ihre Herangehensweise zwischen Opern- und eigener Choreografie?

Waltz: Ein Libretto und eine Partitur sind wichtige Anhaltspunkte, sozusagen das Herzstück einer Oper, und dann forsche ich über das Thema und die Interpretation. Daraufhin entwickle ich meine eigene Partitur, den tänzerischen Ausdruck, die Choreografie. Dabei folge ich nicht sklavisch dem, was geschrieben steht, sondern versuche einen eigenen Weg und eine eigene, selbständige Linie zu entwickeln, die etwas hinzufügt. In der Musik wird bereits alles ausgedrückt, und ich frage mich: Was ist dann die Dimension, die der Tanz hinzufügen kann, die etwas erweitert und vergrößert und vertieft? Wenn ich eine Choreografie ohne Partitur entwickle, also mit einem lebenden Komponisten zum Beispiel elektronischer Musik zusammenarbeite oder auch, wenn ich die Musik selbst zusammenstelle und eine Collage erarbeite, dann kann es sein, dass ich erstmal sehr lange in Stille mit den Tänzern probiere und eigene Bewegungspartituren schreibe, die aber auch sehr musikalisch und rhythmisch sein können. Dann kann ich im zweiten Schritt mit einem Komponisten arbeiten, der schon bestimmte Fragmente oder Stimmungen sieht und im Dialog, im Austausch zwischen Bewegung und Musik etwas erarbeitet. Insofern ist eine Choreografie ohne Libretto und Partitur eine andere, freiere Herangehensweise, die dem Tanz mehr Freiheit und Möglichkeiten gibt.

Georg Friedrich Haas komponierte mit „SYM-PHONIE MMXX“ sein erstes Auftragswerk für Tanz für Sie. Wie gestaltete sich der gemeinsame Entstehungsprozess?

Waltz: Wir haben 2016 begonnen, über das Werk zu sprechen, haben uns oft ausgetauscht, auch über die politische Lage: Welche wichtigen gesellschaftlichen Themen wollen wir bearbeiten? Und welche strukturellen Fragen, die uns in der Musik oder auf der Bühne interessieren? Auch nachdem die Komposition fertiggestellt war, blieben wir im Probenprozess im Austausch. Es gab beispielsweise eine kleine Passage, wo mir noch etwas fehlte und Georg Friedrich Haas mir dann entgegenkam und etwas variiert hat. So ist die Entstehung von SYM-PHONIE MMXX ein sehr lebendiger Prozess gewesen.

Wie eng verzahnt entwickelten sich Musik, bildende Kunst und Tanz hierbei?

Waltz: Am Anfang einer Produktion, noch bevor ich mit der Choreografie und den Tänzern beginne, entstehen die Bühne und das Kostüm. Das ist für mich wichtig. Bildende Kunst, also der Bühnenraum für SYM-PHONIE MMXX, entstand in der Vorbereitung, ungefähr ein Jahr vor Probenbeginn 2019. Pia Maier Schriever hat das Bühnenbild kreiert, aber natürlich haben wir sehr viele Gespräche geführt und Ideen gewälzt, bis es zu diesem Konzept gekommen ist. Mit ihr verbindet mich seit vielen Jahren eine Arbeitsbeziehung. Der Dialog zwischen der Bühne, dem Raum und dem Tanz ist essenziell für mich und gibt bestimmte Beschränkungen oder Möglichkeiten vor. In SYM-PHONIE MMXX wird der Raum durch drei Wände geformt, es gibt also drei Bewegungen in diesem Stück, die den Raum definieren. Das geht so weit, dass die Bühne tatsächlich den Raum beschränkt und den Tanz verdrängt, also die Körper trennt und teilt. Es wird allein durch den Bühnenraum eine Zustandsbeschreibung und eine Dramaturgie entwickelt. Das Kostüm für SYM-PHONIE MMXX ist von Bernd Skodzig, mit dem ich seit über zwanzig Jahren zusammenarbeite. Das Kostüm ist ebenfalls sehr wichtig: Mit welchen Farben, Formen, Charakteren, Bildern will ich arbeiten? Die Verzahnung zwischen bildender Kunst, Tanz und Musik ist eine sehr wichtige Komponente für mich. Alles beeinflusst sich, und manchmal choreografiere ich Teile neu, um bestimmte Kostümwechsel zu ermöglichen, weil dann eine andere Figur auf der Bühne erscheinen muss, oder eine andere Stimmung, eine andere Farbkomposition sichtbar werden muss. Die Choreografie wird vom Kostüm beeinflusst und dadurch gleichzeitig anders herausgearbeitet. Durch die Formen der Kostüme, durch die Strenge der Linien werden etwa bestimmte Kompositionen klarer oder prägnanter oder sichtbarer. Ich bin daher, bis das Werk auf der Bühne fertig zusammenkommt, fast täglich im Austausch mit dem gesamten künstlerischen Team.

Sie sind bekannt für Ihre Überzeugung, dass gesellschaftlich relevante Themen in der Kunst verhandelt werden sollen. Wirkt sich das auch auf das aktuelle Werk aus?

Waltz: Gerade in dieser Zeit, wo wir mit einem Krieg in Europa konfrontiert sind, der uns erschüttert und verzweifeln lässt, hat die Kunst eine wichtige Aufgabe. Ich glaube immer an die Kraft der Musik, der Kunst, auch an das gemeinsame Erleben von Kunst und dass wir den Raum der Kunst brauchen. Unsere Seele braucht diese Möglichkeit des Aufatmens, des Verarbeitens und Reflektierens gemeinsam in einem Raum. Die Fragen, die uns beschäftigen, fließen natürlich auch in meine Arbeit ein und haben SYM-PHONIE MMXX beeinflusst. Trotzdem bleibt es auch ein abstraktes Werk, es soll die Menschen berühren und Bilder schaffen, die uns Luft machen und Menschen eine Stimme geben, die ihre Stimme nicht erheben können.

Nach so unterschiedlichsten Herausforderungen, die zu großen Erfolgen wurden – gibt es noch die Angst vor dem Scheitern?

Waltz: Die Angst ist immer da, mit jedem großen Werk und den Hindernissen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, um überhaupt ein Werk auf die Bühne zu bringen. Gerade in der Pandemie begleiten uns enorme Unsicherheiten. Besonders bei SYM-PHONIE MMXX, einer Uraufführung: Das ist ein Werk, das niemand bisher getanzt oder gespielt hat, da kann nicht einfach kurz vorher jemand ersetzt werden wie bei einem Repertoire-Stück. Im Angesicht des Krieges in der Ukraine wird mir schmerzlich bewusst, wie privilegiert wir als Künstler hier im Westen sind. Ich bin dankbar für die Demokratie, in der wir leben. Und ich glaube, dass die aktuelle Situation uns nochmal ganz klar vor Augen führt, dass nichts selbstverständlich ist, dass wir für alles kämpfen müssen, dass unsere Demokratie wertvoll und kostbar ist und dass jede Zeit im Theater ein Glücksmoment ist, den man schätzen muss. In diesem Sinne freue ich mich unglaublich darauf, gemeinsam mit dem Publikum die Uraufführung von SYM-PHONIE MMXX zu erleben.

Termine

Auch interessant

Rezensionen

  • Asya Fateyeva steht mit Hingabe für die Vielseitigkeit ihres Instruments ein.
    Interview Asya Fateyeva

    „Es darf hässlich, es darf provokant sein“

    Asya Fateyeva, Porträtkünstlerin beim Schleswig-Holstein Musik Festival, spricht über den Reiz und die Herausforderungen des für die Klassik so ungewöhnlichen Saxofons.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!