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Ballett-Kritik: Staatsoper Berlin – Sym-Phonie MMXX

Schwarmintelligenz

(Berlin,13.3.2022) Zum ersten Mal hat Georg Friedrich Haas mit „Sym-Phonie MMXX“ eine originäre Ballettmusik komponiert, deren Urauffüh-rung Sasha Waltz mit ihrer Compagnie in der Berliner Staatsoper als starkes Gemeinschaftsbild choreografierte.

vonIrene Bazinger,

Wenige Tage, nachdem im März 2020 der letzte Durchlauf von Sasha Waltzs Choreografie „Sym-Phonie MMXX“ in der Staatsoper Unter den Linden Berlin stattgefunden hatte, wurde der erste Lockdown wegen der Corona-Pandemie verhängt. Die Produktion wurde im vollen Schwung ausgebremst, die Premiere dreimal verschoben. Sie konnte erst jetzt, nach ziemlich genau zwei Jahren, nachgeholt werden. Inzwischen ist viel passiert – neben den großen weltgeschichtlichen Ereignissen hat sich das Staatsballett neu sortiert, die ursprüngliche Belegschaft ist nicht mehr verfügbar, und so steht stattdessen die Compagnie „Sasha Waltz & Guests“ auf der Bühne.

Die Polarität von Individuum und Kollektiv, von Protest und Unterwerfung, von Chaos und Ordnung

Mit Virtuosität und Eleganz zeigt sie die Uraufführung von „Sym-Phonie MMXX für Tanz, Licht und Orchester“ von Georg Friedrich Haas. Dieses angespannt energetische, oft sperrig-hochdramatische Auftragswerk – seine erste originäre Ballettmusik – ist natürlich eine enorme Herausforderung, verlangt sowohl der Staatskapelle unter Ilan Volkov als auch dem Tanzensemble alles ab. Sasha Waltz hat daraus ein neunzigminütiges Stück entwickelt, das die Polarität von Individuum und Kollektiv betont, von Protest und Unterwerfung, von Chaos und Ordnung. Für das Ornament der Masse kreiert sie ästhetische, vielschichtige Arrangements, in denen das Ensemble Haas‘ subtil monochrome Klangflächen mit zeitlupenhaften Tableaus unterläuft. Die einundzwanzig Tänzerinnen und Tänzer finden sich zu Gruppen zusammen, die einander mit frischer Kraft aufladen, die Balance bei allem poetischen Empowerment bewahren und trotz mancher Differenzen in enger körperlicher Kommunikation bleiben. Später formieren sich kompakte antagonistische Blöcke, die sich gewaltbereit voreinander aufbauen, wobei sich die Maserung ihrer Aggressionen fast spiegelbildlich ergänzt.

Szenenbild aus „Sym-Phonie MMXX“
Szenenbild aus „Sym-Phonie MMXX“

Die solidarische Gemeinschaft als das entscheidende Subjekt der Geschichte

Straßenschlachten freilich treten nicht ein, im Gegenteil: In einer langen Szene ganz ohne Musik nehmen zwei Tänzer die Truppe mit zärtlicher Fürsorge auseinander, legen die Mitglieder einzeln behutsam zu Boden, heben sie alsbald wieder auf und integrieren sich in die bei aller Fragilität stabile Reihe, zu der man sich danach einträchtig aufstellt. Es gibt kaum Soli oder Duette, als wäre für Sasha Waltz hier die solidarische Gemeinschaft mit ihrer Schwarmintelligenz das entscheidende Subjekt der Geschichte. Die Komposition wie die Choreografie basieren nämlich auf Gesprächen zwischen ihr und Haas, in denen es auch um politische Ereignisse wie die Demokratie-Bewegung in Hongkong und „Black Lives Matter“ in den USA ging. Dass der Abend nun im Schatten des Krieges gegen die Ukraine seine Gültigkeit behält, spricht für die inhaltliche Stringenz des Konzepts, das sie, so Waltz, nicht tagespolitisch aktualisieren wollte. Dementsprechend sind die Kostüme von Bernd Skodzig zeitlose, geschmeidige Teilchen in Schwarz oder Beige, wobei alle stets barfuß tanzen, die Männer meist mit nacktem Oberkörper.

Szenenbild aus „Sym-Phonie MMXX“
Szenenbild aus „Sym-Phonie MMXX“

Magische Akzente aus Hell und Dunkel

Da „Sym-Phonie MMXX“ überdies das Licht als relevantes Gestaltungselement verlangt, ist der Lightdesigner David Finn besonders gefordert. Er beleuchtet die Bühne tatsächlich suggestiv-raffiniert und lässt das Ensemble manchmal mit magischen Akzenten aus Hell und Dunkel wie auf einem Gemälde von Rembrandt aussehen. Ferner verleiht er der von der Bühnenbildnerin Pia Maier Schriever entworfenen goldenen, fein strukturierten Wand wechselnde Dimensionen. Sie grenzt den Raum erst nach hinten ab, dann fährt sie von der Seite einmal quer über die Szenerie, trennt dabei die Widersprüche und ihre Protagonisten. Am Schluss senkt sie sich mit gemächlichem wie gnadenlosem Tempo von oben herab und ist im Begriff, die Menschen darunter zu erdrücken, worauf die, mehr oder weniger panisch, fortlaufen, sich mit verzweifelten Abwehrgesten wegducken und irgendwann, ehe sie den Boden berührt, komplett von der Bildfläche verschwunden sind. Die Musik, deren Herzschlag derweil von der Angst vor drohendem Unheil getrieben scheint, wird mit Geräuschen wie von Tropfen oder Rasseln aufgerissen. Sie verebbt tonlos – und die Aufführung endet, so beklemmend wie faszinierend, in bedrückender Schwebe.

Szenenbild aus „Sym-Phonie MMXX“
Szenenbild aus „Sym-Phonie MMXX“

Hoffnung auf weitere Zusammenarbeit mit Sasha Waltz

Eigentlich sollte Sasha Waltz mit „Sym-Phonie MMXX“ – zusammen mit dem Schweden Johannes Öhman – ihre Intendanz am Staatsballett beginnen. Das Vorhaben endete vorzeitig und desaströs. Vielleicht ergeben sich in Zukunft unter dem neuen Intendanten Christian Spuck trotzdem Möglichkeiten zur Zusammenarbeit, das Publikum hätte Grund zur Freude.

Staatsoper unter den Linden Berlin
Georg Friedrich Haas: Sym-Phonie MMXX

Ilan Volkov (Leitung), Sasha Waltz (Konzept und Choreogra-phie), Pia Maier Schriever (Bühne), Bernd Skodzig (Kostüme), David Finn (Licht), Staatskapelle Berlin, Tänzerinnen und Tänzer von Sasha Waltz & Guests: Sean Nederlof, Virgis Puodziunas, Zaratiana Randrianantenaina, Joel Suárez Gómez, Ichiro Sugae, Sebastian Abarbanell, Blenard Azizaj, Jíři Bartovanec, Anne Brinon, Rosa Dicuonzo, Edivaldo Ernesto, Melissa Figuei-redo, Yuya Fujinami, Tian Gao, Eva Georgitsopoulou, Hwanhee Hwang, Agnieszka Jachym, Lorena Justribó Manion, Kelvin Ki-lonzo, Annapaola Leso, Jaan Männima

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