Die derzeit spannendste Operetten-Hochburg liegt nicht in Wien, Berlin oder Paris, sondern im tiefsten sächsischen Erzgebirge: Im Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz sammelt Intendant Moritz Gogg mit einer verwegenen Menge an Entdeckungen große Erfolge beim regionalen Publikum und in der Fachwelt. Christian von Götz erbeutet hier und andernorts einen BR-Operettenfrosch nach dem anderen. Vor allem exhumiert von Götz vergessene Titel aus dem riesigen Repertoire des von den Nationalsozialisten gekahlschlagten jüdischen Schaffens. Am 10. Oktober 2026 gelangt in Annaberg-Buchholz „Schmetterling“, die zweite Operette des Tenors Daniel Behle, zur Uraufführung.
Operette Plus
Der Untertitel zum Libretto von Géza Herczeg und István Zágon nach dem gleichnamigen Schauspiel von Lajos Bíró verrät es: Die instrumental aufregende „Ungarische Rhapsodie“ versteht sich als Operette Plus. Die vom Dirigenten Markus Teichler ergänzte Orchestration nutzt alle um 1930 verfügbaren Klangbäder: Wagner-Chromatik, Strauss-Zaubereien, Puccini-Exotismus, veredelte Folklore, Einflüsse aus US-Amerika und von Krasznay-Krausz‘ Lehrer Zoltán Kodály. Der im Alter von nur 43 Jahren verstorbene Krasznay-Krausz (1897 bis 1940) setzte 1927 mit der für Fritzi Massary komponierten „Frau von Format“ einen der größten Berliner Zwischenkriegserfolge und emigrierte wegen der Machtübernahme von Berlin nach Wien. Dort kam es anlässlich des Uraufführungsdoppels von Krasznay-Krausz‘ „Die gelbe Lilie“ mit Paul Abrahams „Märchen im Grand Hotel“ zu einem Prozess, weil Abraham Plagiatsvorwürfe erhob. Einige Nummern wirkten damals ziemlich ähnlich. 1938 wurde „Die gelbe Lilie“ in Budapest nachgespielt und verschwand bis zur deutschen Erstaufführung in Annaberg-Buchholz.

Entertainment, Erotik, Emotionen
„Die gelbe Lilie“ erweist sich in der Annaberger Spielform als Hybridoperette wie Lehárs „Das Land des Lächelns“ und Künnekes „Die große Sünderin“. Die Gattung geriet in den 1930er Jahren in einen Expansionsflow, der wirklich alle musikalischen Kunstmittel dieser Jahre mit exzessivem Heißhunger verschlang: Also noch mehr Tanz, noch mehr musikalisches Flirren, noch mehr Entertainment, Erotik und Emotionen. Dieser Operetten-Manierismus vergrößerte, verfeinerte und vergröberte. Eine Bändigung für heutige Theaterzwecke ist schwierig: Mondäne Freizügigkeit und Kleinkariertheit, Emanzipation und bornierter Traditionalismus ergeben in den 1930er Jahren bei „Clivia“, „Blume von Hawaii“ & Co. ein diffuses Gemisch aus opportunistischer Anbiederung und dem Liebäugeln mit progressiven Ideen. Für Christian von Götz wirkten diese Ambivalenzen nicht abschreckend, sondern stimulierend.

Akustische und szenische Entgrenzung
In der ungarischen Kleinstadt Hajdúsámson treffen – bei Götz konkret anno 1938 unter den Ministerpräsidenten Béla Imrédy und Kálmán Darányi – österreichische und deutsche Emigranten auf ungarische und jüdische Einheimische. Es kriselt und menschelt bis zum (von Götz erfundenen) Selbstmord des ganze Familienvermögen verjuxenden Militärs Max von Hessen. Wenn ein Teil der Figuren mit jiddischem Akzent spricht, ist das ein Kolorit, welches an die noch lange nicht wieder gut gemachte Vernichtung jüdischen Lebens und Kultur erinnern soll. Von Götz ist Spitzenkandidat für eine korrekt genderkratische Operette mit perfekten Revueelementen und visuellen Opulenzkicks. Die musikalische Schmelz- und Schmackesüberwältigung will er auch.
Von Götz bekommt vom bewundernswert spielfreudigen und empathischen Ensemble 300%, leider aber auch von der akustischen Seite – von letzterer mehr auf- als eindringlich. Die mit Mikroports grobflächig, bar jeder Differenzierung aufgeladenen Gesangsnummern und Dialoge hatten plärrige Penetranz. Die von Arrangeur Markus Teichler im Überschwang dirigierte Erzgebirgische Philharmonie war viel zu laut. Dabei hätten die jeweiligen Pultpositionen, vor allem Klarinetten und Solostreicher, allen Sinn und Freisinn für delikate Piano-Völlereien und lockende Magyarismen.

Genderkratisches Panoptikum
Es war dem Ensemble hoch anzurechnen, dass es seine Sensibilität und Doppelbödigkeit nicht durch die akustische Aggressionsattacke unterkriegen ließ. Durch den inzwischen überall selbstverständlichen Genderswitch ergeben sich ganz perfide Konstellationen. Schon scharf: Bettina Grothkopf und Stephanie Ritter spielen zwei ex-habsburgische Offiziere, die dem Glücksspiel und dem gleichen Geschlecht mit ebenbürtiger Hemmungslosigkeit zugetan sind. Der Knick folgt später. Voll d’accord zum Antisemitismus der braunen Okkupatoren treiben die beiden ihren Kameraden und Vierteljuden Max von Hessen in den Selbstmord. Als dieser setzt Richard Glöckner hintergründig komödiantische Marken, bis es nicht mehr geht. Der nette Kerl ist, bis er mit der schwäbelnden Knalldiseuse Mica (Schnauze mit Herz: Malinas Höfflin) zusammenfindet, ein exzessiver Telefon-Junkie am altertümlichen Wählscheibenapparat.
Anderer bizarrer Transgender-Cast: Martha Tham gibt den jüdischen Arzt David Peredy, der in Sachen Zucht und Ordnung mit den germanischen Schlächtern durchaus einige Meinungen teilt. Von Götz macht mit diesem glühend bis abgebrühtem Figurenarsenal aus dem sich durch gattungstypische Vagheit auszeichnenden Originaltextbuch großes Kritik-, Humanitäts- und Libertinärtheater. Dafür greift er bestechende wie fragwürdige Mittel der 1930-er Jahre auf: Exzessives Pathos und Kalauer reiben sich. Katharina Glas legt eine virtuose, für Doppelbödigkeiten sensible Choreographie über das Geschehen. Aus dem Parkett setzt der Opernchor (Leitung: Kristina Pernat Ščančar) nach drei Stunden die prächtige Schlusshymne.

Ensemble-Glanzleistung
Erzherzogs Prinz Stefan Christopher ist eine passende Rolle für Angus Simons, den neuen Bariton, Fast-Tenor und Publikumsbetörer des Hauses. Zsofía Szabó als seine jüdische Erwählte Judith singt die vielen „Frag nicht warum“-Reminiszenzen der Titelmelodie mit überaus kräftigem und doppelbödigem Charisma. László Vargas gestaltet die ungarische Wirtin Bokor und Baronin Gleichingen, die traditionsbewusste Tante des aus Adel und Vermögen verzichtenden Erzherzogs, mit trockener Anmut und Würde. Verena Hierholzer setzt mit dem jüdischen Dienstmädchen Cilli eine sportiv einprägsame Soubretten-Marke. Prächtig agieren auch alle anderen. Auf Einfälle wie das Tanzduett „Dein ist mein Herz, mein ist dein Geld“ muss man erst mal kommen. In burlesken, erotischen und allen anderen Kategorien zischt das wiedergefundene Opus also ab wie Zunder.
Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz
Krasznay-Krausz: Die gelbe Lilie
Markus Teichler (Leitung & Orchestration), Christian von Götz (Regie, Bühne & Kostüme), Katharina Glas (Choreographie), Kristina Pernat Ščančar (Chor), Lür Jaenike (Dramaturgie), Angus Simmons, László Varga, Leander de Marel, Zsófia Szabó, Martha Tham, Richard Glöckner, Malina Höfflin, Joska Juliane, Bettina Grothkopf, Stephanie Ritter, Verena Hierholzer, Opernchor des Eduard-von-Winterstein-Theaters, Erzgebirgische Philharmonie Aue
Termintipp
Mi., 17. Dezember 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Krasznay-Krausz: Die gelbe Lilie
Angus Simmons (Prinz Stefan), László Varga (Baronin Gleichingen u. a.), Leander de Marel (Mathias Peredy), Zsófia Szabó (Judith Peredy), Markus Teichler (Leitung), Christian von Götz (Regie)
Termintipp
Sa., 27. Dezember 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Krasznay-Krausz: Die gelbe Lilie
Angus Simmons (Prinz Stefan), László Varga (Baronin Gleichingen u. a.), Leander de Marel (Mathias Peredy), Zsófia Szabó (Judith Peredy), Markus Teichler (Leitung), Christian von Götz (Regie)
Termintipp
Sa., 03. Januar 2026 19:30 Uhr
Musiktheater
Krasznay-Krausz: Die gelbe Lilie
Angus Simmons (Prinz Stefan), László Varga (Baronin Gleichingen & Wirtin), Leander de Marel (Mathias Peredy), Zsófia Szabó (Judith Peredy), Markus Teichler (Leitung), Christian von Götz (Regie)
Termintipp
So., 11. Januar 2026 19:30 Uhr
Musiktheater
Krasznay-Krausz: Die gelbe Lilie
Angus Simmons (Prinz Stefan), László Varga (Baronin Gleichingen & Wirtin), Leander de Marel (Mathias Peredy), Zsófia Szabó (Judith Peredy), Markus Teichler (Leitung), Christian von Götz (Regie)
Termintipp
Fr., 16. Januar 2026 19:30 Uhr
Musiktheater
Krasznay-Krausz: Die gelbe Lilie
Angus Simmons (Prinz Stefan), László Varga (Baronin Gleichingen & Wirtin), Leander de Marel (Mathias Peredy), Zsófia Szabó (Judith Peredy), Markus Teichler (Leitung), Christian von Götz (Regie)




