Das Publikum im Theater sieht stets nur eine Illusion: ein Zerrbild der Wirklichkeit, ein komisches oder tragisches Spiel – mitunter beides zugleich. Es wird getanzt, gefeiert, gejubelt, geweint. Doch was geschieht hinter der Bühne? Was empfinden die Spielenden selbst – sind sie Teil der Gesellschaft oder Angehörige einer in sich geschlossenen Gemeinschaft? An dieser Frage setzt Tom Goosens’ Inszenierung von Verdis „La traviata“ am Hessischen Staatstheater Wiesbaden an. Nicht das halbweltliche Treiben der Pariser Bourgeoisie steht im Vordergrund, sondern der Gegensatz zwischen Bühnenvolk und Bürgertum.
Goosens und sein Bühnenbildner Bart Van Merode drehen die Perspektive buchstäblich um 180 Grad: Das einzige Bild des Abends zeigt die graue Rückseite einer Theaterkulisse, flankiert von den Spiegeln der Künstlergarderoben. Schon die Ouvertüre wird zur Allegorie des Backstage, wenn schwere die Scheinwerfer zu Verdis irisierend-nostalgischen Klängen elegant choreografiert schwingen.

Die Bühnenwelt der Anderen
Der Grundkonflikt zeigt sich in der fast unversöhnlichen Gegenüberstellung der Bühnenmenschen, zu denen auch Violetta gehört, und der beiden bürgerlichen Germonts. Diese erscheinen in samtblauen und sandfarbenen Anzügen stilvoll gekleidet, während Violetta mit ihrem lavendelfarbenen Kleid als Bindeglied beider Welten fungiert. Die übrige Gesellschaft hingegen überreizt sämtliche Geschmackskonventionen und tritt als grellbunter Block exzentrischer Gestalten auf.
Soweit, so verständlich. Doch was fehlt, ist Dynamik – sowohl im Bühnenbild als auch in der Figurenführung. Das heiter zur Flamenco-Macarena umgestaltete Trinklied bringt keine wirkliche Belebung. Trotz der prägnanten Kostüme bleibt die Bewegung fast ausschließlich den Hauptfiguren vorbehalten. Hier hätte die Regie mehr Liebe zum Detail und die Vermeidung von Statik zeigen dürfen.

Musikalische Stärken überwiegen deutlich
Musikalisch dagegen bietet der Abend sehr viel Erfreuliches. Galina Benevich gestaltet ihre Violetta als selbstbewusste Operndiva fern jeder Sentimentalität. Ihr Leitmotiv ist Würde. Diese schleudert sie Alfredo ebenso kraftvoll und klar entgegen wie dessen sorgenvollen Vater Giorgio. In den Arien überzeugt Benevich durch Koloraturfreude und dynamische Spannweite, reizt das Limit ihrer Stimme bisweilen etwas zu sehr bis über den Rand hinaus. So manches eifrig geformte Liebesbekenntnis droht da Liebhaber eher zu verschrecken – das Selbstbekenntnis zum freien Lebensstil in der Kabaletta „Sempre libera“ gerät eher zum existentialistischen Revolutionskampf.
Joshua Sanders gibt einen Alfredo vom Typus „perfekter Schwiegersohn“. Zwischen vornehmer Galanterie und jugendlicher Eitelkeit wahrt er stets Maß und verleiht der Figur jene glaubwürdige Naivität, mit der sich ein Bürgerlicher erstmals ins Abenteuer der Liebe stürzt.
Samuel Park als Vater Giorgio beeindruckt unter den drei großen Rollen von „La traviata“ am nachhaltigsten. Der koreanische Bariton, der im September 2024 zu Recht den ersten Preis beim Internationalen Musikwettbewerb der ARD gewann, gestaltet seinen Giorgio mit großer Souveränität. Seine von Reue gefärbte Stimme dankt Violetta, die ihr Glück aufgibt, zugleich spricht aus den kraftvollen, dunklen Tönen eine Spur jener großbürgerlichen Härte, mit der er die eigenen Interessen unerbittlich wahrt. Der Szenenapplaus kommt folgerichtig.

Großer Chor- und Orchesterklang
Schließlich verleiht Generalmusikdirektor Leo McFall dieser Premiere einen spürbar profilierten Klang, wie man ihn bei italienischen Repertoireklassikern – von den weich modellierten Linien des Belcanto bis zum am Theatergeschehen geschärften Verismo – allzu oft vermisst. Seine „La traviata“ besitzt jene expressive Schärfe, die man eher bei Richard Strauss erwarten würde, ohne dabei je ins Affektierte zu kippen. McFall zeichnet seinen Verdi rhythmisch pointiert und transparent, ohne ihm die Sinnlichkeit zu nehmen. Davon profitiert vor allem der Chor, der die klare Phrasierung aus dem Orchestergraben aufnimmt und mit spürbarer Motivation die Lebendigkeit dieser illustren Feiergesellschaft unterstreicht.
Musikalisch gelingen dem Chor und Orchester, was der Inszenierung nur in Ansätzen vergönnt ist: das lebhafte Erzählen einer altbekannten Geschichte – fernab ausgelaugter Konventionen, liebevoll und erfrischend offen. Ein Abend für das innere Auge.
Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Verdi: La traviata
Leo McFall (Leitung), Tom Goosens (Regie), Bart Van Merode (Bühne & Licht), Sietske Van Aerde & Lena Mariën (Kostüme), Myriam Lifka (Choreografie), Galina Benevich, Joshua Sanders, Samuel Park, Aistė Benkauskaitė, Petra Urban, Sascha Zarrabi, Jonathan Macker, Aymeric Catalano (Chor), Chor des Hessisches Staatstheater Wiesbaden, Hessisches Staatsorchester Wiesbaden
So., 09. November 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Verdi: La traviata
Sarah Yang (Violetta Valéry), Katleho Mokhoabane (Alfredo Germont), Sam Park (Georgio Germont), Aistė Benkauskaitė (Flora Bervoix), Petra Urban (Annina), Nathan Bryon (Gastone), Leo McFall (Leitung), Tom Goossens (Regie)
Sa., 22. November 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Verdi: La traviata
Sarah Yang (Violetta Valéry), Katleho Mokhoabane (Alfredo Germont), Sam Park (Georgio Germont), Camille Sherman (Flora Bervoix), Petra Urban (Annina), Sascha Zarrabi (Gastone), Leo McFall (Leitung), Tom Goossens (Regie)
Do., 11. Dezember 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Verdi: La traviata
Galina Benevich (Violetta Valéry), Joshua Sanders (Alfredo Germont), Yosif Slavov (Georgio Germont), Aistė Benkauskaitė (Flora Bervoix), Petra Urban (Annina), Nathan Bryon (Gastone), Leo McFall (Regie), Tom Goossens (Regie)
So., 14. Dezember 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Verdi: La traviata
Sarah Yang (Violetta Valéry), Katleho Mokhoabane (Alfredo Germont), Yosif Slavov (Georgio Germont), Aistė Benkauskaitė (Flora Bervoix), Petra Urban (Annina), Sascha Zarrabi (Gastone), Leo McFall (Regie), Tom Goossens (Regie)
Fr., 19. Dezember 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Verdi: La traviata
Galina Benevich (Violetta Valéry), Joshua Sanders (Alfredo Germont), Yosif Slavov (Georgio Germont), Aistė Benkauskaitė (Flora Bervoix), Petra Urban (Annina), Sascha Zarrabi (Gastone), Leo McFall (Regie), Tom Goossens (Regie)




