München leuchtet. Am liebsten im Glanz, vielleicht auch nur im Abglanz der Stars, die in der Musikstadt aus Tradition gern Station machen. Repräsentativ soll es an der Isar in musikalischen Dingen gern sein, gediegen auch, und gerade so vorhersehbar, dass eventuelle Überraschungen im Rahmen des guten Geschmacks bleiben. Doch seit 2018 denkt das HIDALGO Festival die Münchner Musikszene neu. Man arbeitet im Kollektiv, dazu sparten-, disziplinen-, gattungs- und genreübergreifend. Da trifft Hochkultur auf Kiez, ein Liederabend wird schon mal zum experimentellen Laborraum, und die eingespielten Formen, Abläufe und Rituale eines klassischen Konzerts werden lustvoll auf den Kopf gestellt. Dazu verwandeln sich unerhörte, für diese Nutzung gleichsam verbotene Räume in Konzertorte, die in der Folge einen Perspektivwechsel des Publikums geradezu erzwingen. Da das diesjährige Motto „Dein bester Deal!“ das uralte Spannungsfeld zwischen Kunst und Kommerz in den Blick nimmt, fanden einige der einzigartigen Abende in diesem Jahr im einstigen Kaufhaus am Stachus statt, einer Location somit, wo über Jahrzehnte die Bedürfnisse nach Konsum auf denkbar einfache Weise unter einem Dach befriedigt werden konnten.
Das ganze große mephistophelische Versprechen
Der Galeria Kaufhof am chronisch megabelebten Stachus gehörte seinerseits zu den Münchener Wahrzeichen, seit 1951 stand er für Aufbruch, Fortschritt und Wirtschaftswunder. Hier sorgte sogar die erste Rolltreppe der Stadt für Furore. Seit zwei Jahren ist die Filiale dicht. Vor der umfassenden Sanierung des Tempels des Konsums sorgt derzeit die Kultur für eine anregende Zwischennutzung. An die mittlerweile ausgebauten Rolltreppen sind Rutschbahnen getreten. Der Weg in den 4. Stock, den HIDALGO bespielt, läuft über die schmucklosen Treppenhäuser des leerstehenden Warenhauses. Nur ein Blick nach oben an die abgehängten Decken der Verkaufsräume lässt noch an die gute alte Zeit denken, als die Segnungen des Kapitalismus hier für breiten bundesrepublikanischen Wohlstand sorgten: Wir erblicken Lüftung, Leuchtkörper, Sprinkler und Notausgangsschilder.
Wohlsortierte Regale sind nun freilich einer flexiblen Bestuhlung gewichen, auf der ein im besten Sinne diverses, zwischen Jung und Alt bunt gemischtes Publikum Platz nehmen kann. Fast alle Stühle sind besetzt, als „Sell your Soul“ in 90 pausenlosen Minuten das ganze große mephistophelische Versprechen macht. Wer für diese Show ein Ticket hat, kann quasi als Faustina oder Faust das wahre Glück im Reiche des (vergangenen) Warenglücks finden. „Warteraum 1“ ist in roter Schrift auf einem Schild an der Decke zu lesen. Eine streng stoisch blickende und ihre wenigen, fast immergleichen Aufforderungen abspulende junge Frau sagt nach Aufruf einer Sitzplatznummern: „Begeben Sie sich bitte in Ihre Kabine“. Was wie eine Wahlkabine aussieht, dient hier zum Ausfüllen eines Fragebogens, der uns zum Nachdenken über das Glück animiert: Was wären wir bereit, für das ganz große Glück aufzugeben? Auch fiese Sekten könnten solche Fragen stellen, die in der Zuspitzung gipfeln: „Welcher Einsatz wäre es Ihnen wert, Unsterblichkeit zu erlangen?“
Grenzsprengung zwischen Künstlern und Publikum
Nur wer sind denn nun die aufgerufenen Personen mit der Glücks-Platzzahl? Mitspielende Statisten oder echte, ganz normale Besucherinnen und Besucher? Das wird für eine Weile bewusst nicht klar. Eines der Markenzeichen von HIDALGO scheint ja eine weitere Grenzsprengung zu sein: jene zwischen Künstlern und Publikum. Die beiden Seiten vermischen sich. Wir dürfen mitmachen. Das wird nun deutlich. Doch auch der Pianist Henri Bonamy, die Geigerin Xenia Geugelin und die Klarinettistin Bettina Aust werden mit ihren Platznummern aufgerufen. Sie schreiten auf den Holzstufen, die die alten Rolltreppen ersetzen, eine Etage höher. Ob da oben das Paradies liegt? Oder die Hölle? Jedenfalls ein Ort der Verwandlung. Denn die beiden Künstlerinnen und der Künstler kehren nun in Konzertkleidung in den 4. Stock zurück – und beglücken uns mit teuflisch guter und teuflisch gut gespielter Musik. Imaginativ funkelnd und fantastisch klangpoetisch tupft Henri Bonamy die Mephistowalzer des Franz Liszt in die schwarz-weißen Tasten. Xenia Geugelin verführt uns violinistisch mit Niccolò Paganinis kaum weniger teuflischen Capricen, Bettina Aust zaubert an der Klarinette die Musikmagie des Olivier Messiaen aus „Quatuor pour la fin du Temps“. Als Trio finden die Soli in instrumentalen Ausschnitten aus Strawinskys „Histoire du soldat” zusammen.
Eine Liebeserklärung an die heilende, ja heilige Kraft der Musik
Heimliche Hauptfigur aber ist ein besonderer Besucher des Abends, den der Schauspieler Max Koltai als Jens mimt. Zu Beginn ein unanständig hustender Konzertgänger überrascht dieser Anzugträger mit einer allzu privaten Erzählung von den Konflikten seines Lebens. Als guter Mensch, der seine Mutter bis zu ihrem Tod gepflegt hat, müsste er doch nun wirklich die Chance dazu haben, glücklich und zufrieden zu sein. Kann er das Sonderticket ins Glück lösen? Wann ist er denn nun endlich mal dran mit dem großen Gewinn? Die gewitzte Kontextualisierung des Konzerts mit dem zum Mitfühlen einladenden Schicksal dieses Einzelnen (Text: Barbara Marie Hofmann, Konzept: Barbara Marie Hofmann, Gregor A. Mayrhofer, Stella Neuner, Felix Press) lädt zum intensiven Nachdenken ein. Ist Glück die individuelle Erfüllung? Folgt es also dem egoistischen Prinzip des Konsums? Oder ist das Glückserleben in der Musik nicht vielmehr ein gemeinschaftliches Ereignis, das Menschen verbinden kann? Sind magische Momente eines guten Konzerts nicht etwas im romantischen Sinne Erhebendes und gar Erhabenes? Der Abend wird auf allerhand verrückten Umwegen zu einer Liebeserklärung an die heilende, ja heilige Kraft der Musik. Die Exzellenz der Beteiligten und das kompromisslose Qualitätsempfinden des HIDALGO-Kollektivs machen es möglich, dass wir als kleine Faustinas und Faustens ausrufen mochten: „Verweile doch, Du bist so schön“.
Gesellschaftliche Utopien zwischen Wohlfühloasen und Wahrheitsorten
Der komplexen, irritierend inspirierenden Inszenierung von „Sell your Soul“ (Regie: Stella Neuner) folgten am selben Ort in gewandelter Sitzordnung die „60 Minutes of Utopia“. Der Liederabend mit dem wunderbar mitteilsamen Bass Andrew Munn und seinem Klavierpartner Jacob Greenberg stellte die in den USA entstandenen Elegien von Hanns Eisler auf Texte von Bertolt Brecht in den Mittelpunkt. Der Sänger, der in jüngeren Jahren seinerseits in Amerika gegen Missstände opponierte, machte darin den Widerspruch aus musikalischer Schönheit und politischer Klage mithilfe der Moderatorin Diana Marie Müller deutlich, die Texte von Rea Mair nach einem Konzept von Anne Keckeis vortrug. Da werden dann die Finger in die Wunden gesellschaftlicher Utopien zwischen Wohlfühloasen und Wahrheitsorten gelegt. Wie ist das mit dem Traumland ohne Unrecht, ohne Schweiß und wohl auch ohne Gott, dafür aber mit gutem Rotwein für alle? Natürlich lauern da auch mal die Untiefen wohlfeiler Kapitalismuskritik. Doch dreht und wendet das HIDALGO-Kollektiv eben auch die steilste These mit Selbstironie und einem merklichen Augenzwinkern – und lenkt dann wieder stracks auf die Musik selbst zurück, in der Ernst Bloch, der große sozialistische Denker, einst die utopischste aller Künste entdeckte. An dieses „Feenland der Lieder“ dürfen wir für diesen 60 Minuten dauernden klingenden Utopiediskurs einfach mal glauben. Wie viel mehr ist das, als mal wieder in einem Konzert zu sitzen, das so abläuft wie immer?
Am Freitag schließt das Festival für junge Klassik seinen Durchlauf 2024 mit einem Konzert in der Münchner Residenz ab. Am 6. November ist HIDALGO mit seinem Programm „Confessions“ auf Einladung der Elbphilharmonie in Hamburg zu Gast und spielt in der Halle 424.
Hidalgo, Festival für junge Klassik
Sell your Soul
Barbara Marie Hofmann, Gregor A. Mayrhofer, Felix Press (Konzept), Barbara Marie Hofmann (Text), Stella Neuner (Regie), Elsa Mack (Projektleitung), Henri Bonamy (Klavier), Xenia Geugelin (Violine), Bettina Aust (Klarinette), Max Koltai (Schauspieler), Felix Press (Kamera)
60 Minutes of Utopia
Anne Keckeis (Konzept), Rea Mair (Text), Julia Wimmer (Projektleitung), Andrew Munn (Bass), Jacob Greenberg (Klavier), Diana Marie Müller (Moderation)