Das Fassungs- und Gewissensgezeter um die Fast-Oper und deren heute nur noch in Anführungszeichen tragbaren Titel „Der Zigeunerbaron“ begann schon lange vor Tobias Kratzers Fleischhaus- und Coronafassung an der Komischen Oper Berlin – früher jedoch nicht wegen der fragwürdigen Setzung um Sinti und Roma als Bühnen-, Fantasie- und exkludierte Klischeefiguren, sondern um die Militarismus-Verherrlichung anhand des für die Handlung wichtigen Österreichischen Erbfolgekriegs von 1740 bis 1748. Den mit dem Radetzkymarsch um die Publikumsgunst wetteifernden Einzugsmarsch im dritten Akt nahm man Strauss übel, weniger in Österreich als in West- und Ostdeutschland. Trotzdem: Das 1885 im Theater an der Wien uraufgeführte Prachtwerk um den Filou Sándor Barinkay, den Pusztaschweine-Baron Kálman Zsupan und Saffi, die Tochter des letzten „Pascha von Ungarland“, darf als musikalische Nationalikone beim Wiener Jubiläum Johann Strauss 2025 nicht fehlen. Was tun also? Klar doch: Eine gründliche Überschreibung.

Aktualisierung mit Fantasie-Folklore
Diese wurde als Uraufführung „Das Lied vom Rand der Welt oder Der ‚Zigeunerbaron‘“ in Halle E des Museumsquartiers mit kräftigem und gegen Ende rasch abbrechendem Applaus gefeiert. Nun hat es sich bei Überschreibungen etwa von „Carmen“ mehrfach erwiesen, dass die Eliminierung von rassistischen Zuschreibungen einen leichten Verlust an Spannungsdynamik zur Folge hat. Dieser Gefahr konnte auch der global und in Sachen Wirtschaft dialektisch denkende Bearbeiter Roland Schimmelpfennig nicht ganz entgehen. Aus „Zigeuner*innen“ machte er „Nomad*innen“ und aus der Schweinemast eine Fleischindustrie „am Rand der Welt“. Weite Teile von Ignaz Schnitzers Originaltextbuch wurden den Figuren als Erzähltheater in den Mund gelegt, Sexuelles verdeutlicht und ideologisch Fragwürdiges entschärft. Balken über der Bühne wie „Wald“ und „Fleischerei“ zeigen genau, wo und woran man ist. Andererseits wertschätzt Schimmelpfennig viel vom Ur-Textstoff und bescheinigt Barinkays Couplet-Refrain „Ja, das alles auf Ehr“ eine hellsichtige Spiegelung des wahren Wiener Gemüts. Insgesamt haftet Schimmelpfennigs Bemühungen trotzdem etwas Plättendes an – wie etwa getrockneten Schmetterlingen. Bei der Premiere fiel das aber kaum auf – dank der Ausstattung, dem sagenhaft intelligent-sinnlichen Soloensemble, dem Strauss-Relaunch der Musicbanda Franui, dank einer die Moralitätsfallen geschickt abfedernden Ausstattung von Anna Sushon und Anna Sünkel sowie dem wunderbaren Arnold Schoenberg Chor.

Musicbanda Franui mit intelligentem Operetten-Sound
Franui verfährt in seiner fast genialen, weil kreativen Freisinn und Respekt vereinenden Neuinstrumentierung nicht ganz konsequent. Im ersten Akt gibt es unter den Dialogen ganz aparte Melodram-Musik, welche später dann ganz versiegt. Dafür legt Franui immer mehr an Blech und groben Rhythmen zu, wenn es sich um die Bösen im Stück handelt. Da agierte Strauss – wie Nikolaus Harnoncourt in seiner Bemühung und Veredelung unmissverständlich darlegte – während der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie einfach subtiler, traute seinem Publikum weitaus mehr Urteilsvermögen zu. Aber alles, was Franui unter dem Schlagwort „Folklore Imaginaire“ auffährt, hat rasante Rasse und Klasse. Bis zur letzten Nummer reihen sich immer wieder andere Schlagwerk- und Arrangement-Effekte, das Klanggeschehen ist in ständigem Wandel und Aufruhr der Dissonanzen. Strauss‘ aus der Beschäftigung mit dem ungarischen Nationalkomponisten Ferenc Erkel erwachsene Verbunko-Manie bindet sich bei Franui zum taffen Werk- und Soundkolorit. Es schwelgt, pudert und harpuniert in den Gesangsstimmen, auch in den Schauspielrollen. Franui macht sogar Ernst mit der Annäherung von Strauss zu Weill, vor allem mit Miriam Maertens in den fast immer gestrichenen Couplets der Mirabella über die Schlacht bei Belgrad. Man hört deutlich Franuis Liebe zum Original. Und Anna Sushon am Pult transzendiert Strauss zu einem urbanen Chill-out, das die Intensität eines mit großem Können arrangierten, dabei minimal überwürzten Balkan-Menüs erhält.

Ein beseeltes Ensemble
Auf der Bühne steht bis in die Nebenpartien eine Elite des intelligent beseelten Musiktheaters. Der Arnold Schoenberg Chor agiert zwischen Wursttheke und Camping-Utensilien, ist schrille Nomaden-Meute und gefrustetes Lohnproletariat. Nadja Mchantaf gibt eine dunkel glühende Saffi mit feurigen Höhenpfeilen, Miriam Kutrowatz eine Arsena mit selbstbewusstem Sympathie-Potenzial. Ebenbürtig auch die beiden Tenöre: Es macht David Kerber offenbar eine riesige Freude, edle Gesangslinie und exotisches Outfit in sinnfällige Beziehung zu bringen. Paul Schweinester als Ottokar macht viel bessere Figur als über ihn die anderen Figuren sprechen, er singt mit Kerber auf gleichem Rang. Otto Katzameier soll den Soldatenwerber Homonay und Barinkays Urahn zusammen verkörpern, lichtert als sympathischer Grandseigneur durch das letzte Spieldrittel. Helene Schneiderman erhebt bei ihrem Czipra-Debüt die Figur zu einem charismatischen Bühnenmittelpunkt. In dieser Fassung gelingt es Samouil Stoyanov nicht ganz, dem Sittenkommissionär Carnero hinreichend Profil zu geben, trotz feiner Akrobatik und Pointen. Ungewöhnlich vor allem: Schauspieler-Star Tobias Moretti macht den Schweinezüchter Zsupan zu einem Bürokraten, gegen den hier seine Tochter und der abgelehnte Schwiegersohn Ottokar leichtes Spiel haben. Damit verschieben sich in Halle E einige Handlungsscharniere.
Nuran David Calis ist Schauspiel-Regisseur durch und durch. Nicht nur in Videos erfasst er jede Beiläufigkeit, geht jedem Detail auf den Grund. Calis benützt die vielen Requisiten der Ausstattung vom ausgenommenen Schwein bis zum Auto auf der Bühne. Er lädt Situationen mit Witz auf und kann mit den vielen guten Eigenschaften des Ensembles perfekt umgehen. Hoffentlich gibt es das bald auf DVD oder CD.
Johann Strauss 2025 Wien im Museumsquartier (Halle E)
nach Johann Strauss: Das Lied vom Rand der Welt oder Der „Zigeunerbaron“
Andreas Schett (Leitung), Anna Sushon (Dirigat), Nuran David Calis (Regie & Video), Anne Ehrlich (Bühne), Anna Sünkel (Kostüme), Bernd Purkrabek (Licht), Clara Bender (Dramaturgie), Erwin Ortner (Chor), David Kerber, Nadja Mchantaf, Helene Schneiderman, Tobias Moretti, Miriam Kutrowatz, Miriam Maertens, Paul Schweinester, Otto Katzameier, Samouil Stoyanov, Musicbanda Franui & Strings, Arnold Schoenberg Chor