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Opern-Kritik: Mainfranken Theater Würzburg – Lucia di Lammermoor

Die Axt im Haus

(Würzburg, 25.3 2023) Im Ausweichquartier der Theaterfabrik Blaue Halle holen Enrico Calesso und das Philharmonische Orchester Würzburg die Psychologie aus der Partitur. Regisseur Matthew Ferraro versteigt sich hingegen in allerhand bizarren Einfällen.

vonRoland H. Dippel,

Drastische Bilder, auf alle Fälle eine kräftige Orchesterleistung und Akiho Tsujii als souveräne wie anrührende Sängerin der Titelpartie kamen in der 500 Plätze fassenden Theaterfabrik Blaue Halle zusammen. Noch bis zur 2027 vorgesehenen Wiederöffnung des Stadttheaters nach der Gesamtsanierung arbeitet dort das Musiktheater-Ensemble des Mainfranken Theaters Würzburg unter quasi-industriellen Effizienz-Voraussetzungen. Kaum Depot-Flächen für Fundus und Dekorationen, allzu wenige Arbeitsplätze für in der Pandemie leicht minimierte Personalressourcen und die Theater-Abteilungen in der Stadt verstreut. Für das treue, sein Theater liebendes Publikum gibt es Shuttlebusse vom Zentrum in die Peripherie zur Blauen Fabrik. Dabei brennen GMD Enrico Calesso und Operndirektor Berthold Warnecke nach Fortsetzung ihrer enthusiastisch aufgenommenen Produktionen wie „Die Hugenotten“, „Die sizilianische Vesper“ und „Götterdämmerung“, die unter den gegenwärtigen Bedingungen zu lange nicht möglich sein kann. Auf dem Spielplan steht ab 24. Juni die Orchester-Premiere von Janáčeks „Die Sache Makropulos“ nach der bisher nur einzigen Vorstellung mit Klavier während der Pandemie.

Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“
Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“

Sanfte Smartphone-Lady mit Axt und Schwert

Auch ohne das zugesetzte Donnergrollen vor den ersten Takten hätte man einen rauen schottischen Wind aus der Musik gehört. Enrico Calesso und das Philharmonische Orchester Würzburg holen für Donizettis sorgfältig gearbeitete Antwort auf Bellinis „I puritani“ am Teatro San Carlo Neapel 1835 die Psychologie aus der Partitur, selbst wenn sie das Klanggeschehen eher beim mittleren und aus Vorsatz groben Verdi als in der eigentlichen Belcanto-Kunstmanufaktur Italiens verorten. Deutlich akzentuiert sind die mit den Sängerstimmen wetteifernden Hörner-Kantilenen, Donizettis düstere Pauken-Prophezeiungen von noch größerem Unglück und sein mit „Lucia“ beginnender Quantensprung an musikdramatischer Differenzierung. Nur die Striche waren etwas unglücklich. Zwar kommen die Duellforderung auf Wolferag zwischen dem Aufsteiger Sir Henrik Ashton und dem verarmten, entmachteten Sir Edgardo of Ravenswood sowie der explosive Mittelteil in der großen Wahnsinnsszene der aus Liebe zur Mörderin werdenden Lucia. Aber es fehlen ausgerechnet alle Strophen, in denen Donizetti und der dramaturgisch gar nicht so ungeschickte Salvatore Cammarano die typische Soloarien-Strukturen aufweichen und dialogisch individualisieren. In Würzburg erklingt die ambitionierte Partitur nach Walter Scotts Bestseller-Roman also weitaus konventioneller als komponiert.

Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“
Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“

Nebulöse Schauplätze, bizarre Symbole

Eine ähnliche leichte Versteifung zeichnet die Inszenierung des Amerikaners Matthew Ferraro aus, der diesmal nicht sein eigener Bühnenbildner ist. Der in Lucias Vintage-Boudoir liegende Lüster, eine medizinische Transfusion vor der mit Intrigen erzwungenen Hochzeit Lucias, die wie zu einer mediterranen Festlichkeit mit Perücken und viel Rot paradierende Chorfrauen sind nur einige Momente des an visuellen Bizarrerien reichen Abends. Ferraro setzt in fast manischer Fülle plakative Situationen, wofür ihm Pascal Seibicke das sinnfällig konzentrierte Bühnen-Material liefert. Zur stringenten Geschichte mit kohärenter Symbolik bindet sich Ferraros Ideenflut allerdings nicht. Ferraro will zeigen, wie Lucias Wahnsinn erst mit ihrem Mord an Arturo beginnt und nicht, dass der Mord das Ergebnis ihres Wahnsinns ist. Ashton reicht Lucia zwar als letztes Druckmittel die Axt, doch diese greift zum Schwert. So erfährt das Publikum nicht, ob die selfie-versessene Lucia die böse endende Liebesgeschichte zum tief dekolletierten und mit vielen Kettchen behängten Edgardo phantasiert oder diese vielleicht doch „real“ ist. Zu Beginn hängt ein Tierkadaver von der Bühnendecke, später nicht mehr. Zeitgerecht schwirrt der dekorative Set zwischen Stilen und Genres, kommt dabei aber weder am erzromantischen Schauplatz Schottland noch im italienischen Musikflair so richtig an. Dabei gab es ausgezeichnete Besetzungen für die Nebenpartien: Yong Bae Shin als kreativer Ränkeschmied Normanno, Mathew Habib als Bräutigam Bucklaw in steifem Weiß und Barbara Schöller, welche die oft unterbelichtete Alisa mit dunkler Präsenz und expressiven Tönen aufwertet.

Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“
Szenenbild aus „Lucia di Lammermoor“

Die Lucia-Sängerin weiß mehr vom Stück als die Regie

Zum Glück ließ sich Akiho Tsujii von Ferraros nach Effekten schielenden Regie-Grobheiten nicht beirren. Ihre Lucia ist geprägt von elegischer Präsenz, die mit der Regie zum Glück kaum etwas zu tun hat. Auch in den Forte-Sequenzen hat Akiho Tsujii einen berückenden lyrischen Schimmer, setzt Spitzentöne immer im melodischen Kontext und entwickelt einen innigen, aber keineswegs passiven Charakter. So wird sie zur Widerstandskämpferin gegen szenische Zumutungen und siegt mit unwiderlegbaren musikalischen Argumenten. Ähnlich agiert als Einspringer und partienerfahrener Raimondo Sejong Chang, der sich bereits in Leipzig erfolgreich gegen Katharina Thalbachs ähnlich derbe Lesart mit vokalen Argumenten durchsetzen konnte. Hinrich Horn, den Ferraro als recht eindimensionalen Halbstarken einführte, gibt Ashton in den großen Kantilenen virilen Glanz. Roberto Ortiz modelliert einen sehr emotionalen Edgardo, dessen menschlicher Niedergang sich im stimmlichen Ausdruck vom Duett mit Lucia bis zu den fragmentierten Phrasen nach dem Selbstmord-Schuss spiegelt. Wenn ihm am Ende die tote Lucia unbeschädigt und recht nett erscheint, endet ein Abend der szenischen Fragezeichen. Die Würzburger „Lucia“ ist vor allem ein musikalisches Ereignis. Das bestätigten die Ovationen zum Schluss.

Mainfranken Theater Würzburg in der Theaterfabrik Blaue Halle
Donizetti: Lucia di Lammermoor

Enrico Calesso (Leitung), Matthew Ferraro (Regie), Pascal Seibicke (Bühne & Kostüme), Ingo Jooß (Licht), Sören Eckhoff (Chor), Tabea Hilser (Dramaturgie),
Hinrich Horn, Akiho Tsujii, Roberto Ortiz, Sejong Chang, Ihor Tsarkov, Barbara Schöller, Mathew Habib, Yong Bae Shin, Opernchor des Mainfranken Theaters Würzburg, Extrachor des Mainfranken Theaters Würzburg, Philharmonisches Orchester Würzburg

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