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Opern-Kritik: Musikfestspiele Potsdam Sansscouci – Orlando generoso

Das Kreuz mit der Liebe

(Potsdam, 23.6.2025) Schöner Schein in Reibung am kaum erträglichen Sein: Regisseurin Jean Renshaw deutet im Schloss Sanssouci Steffanis Ariost-Vertonung „Orlando generoso“ mit einem Topos der Aufklärung.

vonRoland H. Dippel,

Hoffentlich erlangt Agostino Steffani im Barockrepertoire bald höhere und damit die seinem künstlerischen Rang angemessene Bedeutung! Der universell gebildete Komponist, welcher neben seiner musikalischen Laufbahn in München und Hannover als Diplomat und Apostolischer Vikar für Ober- und Niedersachsen Karriere machte, kommt 17 Jahre nach der Einspielung seines „Orlando generoso“ mit Musica Alta Ripa unter Bernward Lohr bei den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci wieder zur Diskussion.

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Steffanis dritte Oper für Hannover wurde 1691 uraufgeführt und als „Der großmüthige Roland“ an der Hamburger Gänsemarkt-Oper 1695 und 1720 ein Erfolgsstück. Der materielle Aufwand und künstlerische Glanz einer eigenen Hofoper in Hannover hatte auch eine wesentliche politische Funktion. Sie sollte den Hannoveraner Hof für die Kurwürde empfehlen.

Frenetische Gefühlskriege

Keinen Prunk gab es allerdings in Jean Renshaws szenischer Realisierung von „Orlando generoso“ für den Pflanzensaal des Orangerieschlosses Sanssouci. Die vom Tanz kommende Regisseurin näherte sich den Figuren aus Ludovico Ariosts bis weit ins 19. Jahrhundert zum Longseller gewordenen Epos „Orlando furioso“ mit einem Topos der Aufklärung: Wie in einem Labor zur Erkundung der menschlichen Psyche konfrontiert Renshaw die Figuren mit den Auswirkungen des Krieges auf deren liebeshungrige, aber von Zweifeln vergiftete Gefühle.

Szenenbild aus „Orlando generoso“
Szenenbild aus „Orlando generoso“

Die Dysfunktion durch die Hoffnung auf die Wahrheit des schönen Scheins in Reibung am echten, aber kaum erträglichen Sein ist Steffanis und damit Renshaws zentrales Thema. Mit kantig-sperrigen und synkopischen Bewegungen verhindern auch die beiden Tänzer Martin Dvořák und Katharina Wiedenhofer dekorative Opulenz und schöngeistige Kulinarik. Der Konflikt von Ariosts Rittern zwischen Ethos und irdischen Liebesscharmützeln erfährt eine durchdringende Versachlichung

Emotionaler Turboflow

Wie in den Vertonungen von Händel bis Haydn ist der Orlando-Stoff in der Adaption des Hannoveraner Hofdichters Ortensio Mauro ein Abgrund – endend mit der von Renshaw drastisch vorgeführten Misshandlung der „chinesischen“ Prinzessin Angelica durch ihren Vater Galafro. Davor ereignet sich eine sogar für die Barockoper des späten 17. Jahrhunderts seltene Wechselfreudigkeit und Verwirrung der Gefühle. Hier geht es um Wahrung von Standeshoheit und politische Raison, dazu um das Nonplusultra von explosiver, ekstatischer Erfüllung und die solchen irrealen Wünschen zwangsläufig folgende Ernüchterung. Die Figuren stürzen sich mit immer neuen Konstellationen in den emotionalen Turboflow – nicht nur der Militär und Titelheld Orlando, der die Wand mit Porträts der von ihm geliebten Angelica beklebt und doch nicht hinter das Geheimnis von deren Augen kommt.

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Feudales Paradies contra rigide Versachlichung

Atmosphärisch ist der lange Pflanzensaal mit dem einen Flügel als Zuschauerraum, dem anderen als Backstagebereich ein wunderschöner Ort. Die Vorstellungen beginnen in der vollen Abendsonne. Vogelstimmen dringen herein und die Inszenierung hat als Konkurrenz keinen leichten Stand zu diesem Panorama. Alfred Peter kontert den Reizen der Architektur und des Parks mit zwei klobigen Wänden, darauf die riesigen Schriftzüge der Übertitel. „Out“ signalisiert die Leuchte über einer schlichten Tür. Durch diese könnten die Figuren aus dem Emotionenlabor und Beziehungsterror fliehen, tun das aber nicht. Mit fast gläserner Stimme zeichnet der Bariton Gabriel Díaz den Despoten Galafro. Terry Wey gibt einen im Krieg gebrochenen Soldaten Orlando mit schönen und manchmal fahlen Tönen. Sein Wahnsinn ist hier von voll ernster „Natur“ und meint auch noch andere Schocks als seine von Angelica verschmähte Liebe.

Szenenbild aus „Orlando generoso“
Szenenbild aus „Orlando generoso“

Frust contra Erfüllung

In Steffanis kurzen Arien und erstaunlich vielen Ensembles gibt es kaum Differenzierungen zwischen sträflichen und legitimen Gefühlen. Immer sind die Figuren am jeweiligen Stand ihrer emotionalen Verstrickungen. Der Librettist Mauro thematisierte weniger, was sein muss als was sein soll: Gier und Frust contra Sehnsucht und Erfüllung. Man sieht die Figuren in der ständigen Anstrengung, die Wahrheit hinter den Augen und Stirnen der begehrten Menschen zu entdecken, um sich endlich in doch nur trügender Sicherheit zu wiegen. Das zeigt Renshaw deutlich, drastisch, nüchtern und mit einer Kühle, die stellenweise auf das hinter der Szene sitzende Ensemble 1700 unter der sehr auf die synergetische Kommunikation von Gesangsstimmen und Instrumenten achtenden Dorothee Oberlinger abfärbt.

Kluges Plädoyer für Steffani

Im von Olga Watts erstellten Aufführungsmaterial finden sich als Einlagen Stücke aus Steffanis Sonata da camera à 3 und seiner Oper „Niobe, Regina di Tebe“. Die Akustik des Pflanzensaals wirkt für die Instrumente wie eine passende Mischung von Samt und Seide, die Stimmen klingen mit viel und nicht immer vorteilhaftem Hall. Helène Walter als Angelica und Shira Parchornik als Bradamante singen ihre Sopranpartien mit runder Fülle. Am Ende tragen alle, nicht nur die verletzten und besudelten Soldaten, ihre Häupter voll Blut und Wunden. Morten Grove Frandsen gibt einen realistisch expressiven Ruggiero, Natalia Kawalek einen sensiblen und dabei unauffälligen Medoro. Einen exponierten Part hat Sreten Manojlovic als Zauberer Atlante, den Renshaw wie einen Mediator mit Taschenspieler-Allüren durch das Geschehen schickt. Bedingt durch die Akustik klingt der Bassbariton hier nicht ganz so betörend wie in „Tamerlano“ vor kurzem in Göttingen.

Szenenbild aus „Orlando generoso“
Szenenbild aus „Orlando generoso“

Dorothee Oberlinger dirigiert

An diesem Opern-Meisterstück des späten 17. Jahrhunderts im zum Teil unter Renovierung stehenden Aufführungsort und zum Festival-Motto „Grand Tour“ wird deutlich, wie zerrissen das Menschenbild des Barock war. Unter den Entdeckungen Dorothee Oberlingers und unter den bekannten „Orlando“-Vertonungen markiert Steffanis Oper auch deshalb einen Höhepunkt, weil ein heutiges Publikum seiner prägnanten und dem Geschehen angeschmiegten Art des Komponierens faszinierende Facetten abgewinnen kann. Am Ende langer Applaus.

Musikfestspiele Potsdam Sanssouci
Steffani: Orlando generoso

Dorothee Oberlinger (Leitung), Jean Renshaw (Regie), Alfred Peter (Bühne & Kostüme), Olga Watts (Musikalische Assistenz), Terry Wey (Orlando), Hélène Walter (Angelica), Natalia Kawalek (Medoro), Shira Patchornik (Bradamante), Morten Grove Frandsen (Ruggiero), Sreten Manojlovic (Atlante), Gabriel Díaz (Galafro), Martin Dvořák & Katharina Wiedenhofer (Tanz), Ensemble 1700




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