Unter stilisierten Flaggen des islamischen Halbmonds und eines weißblauen Hellas haben fast alle Figuren aus dem Krieg ihren psychischen Schaden davongetragen. Traumata aus Jahren mit Angst, Aggressionen, Flüchtlingsbewegungen und offenbar schwierigen Ausgleichsvereinbarungen hinterlassen zwangsläufig Spuren – in der heroischen Antike nicht anders als in der krisengeschüttelten Welt heute. Floris Visser zeichnet im Saal 2 des Kölner Staatenhauses das lebhafte, teils eindrucksvolle und teils überzogene Panorama einer Gesellschaft im Krieg und nach dem Krieg. Szenische Explosion und musikalische Wohltemperiertheit liefen in Wolfgang Amadeus Mozarts für München 1781 entstandener Opera seria „Idomeneo, Re id Creta“ allerdings nebeneinander her. Punktuellen Jubel gab‘s im nicht sonderlich enthusiastischen Schlussbeifall vor allem für die Sängerinnen und Sänger der fünf Hauptpartien, Dirigent und Orchester.
Emotionsbarrieren
Dabei dachte Visser mehr über die tumultösen Empfindungen der Figuren nach als der sich auf die Oberflächenreize von Mozarts Opern-Dynamit konzentrierende Dirigent. Rubén Dubrowsky interessierte der psychische Ausnahmezustand in dreieinhalb Stunden weniger als ein gleißend und kantabel modellierter Klang, der aber nur selten zum emotionalen Innenleben der genialen Partitur vordrang. Das Gürzenich-Orchester modellierte auch an unpassenden Stellen berückend schöne Bläserläufe. Zu den Chorrufen über das hier nicht existente Meeresungeheuer steigerte es sich im dritten Aufzug in einen perfektionsversessenen Glanz, der alle atmenden Poren zum Innenleben der Partitur überlagerte. Das Intermezzo-Tableau der Soldatenheimkehr nach dem ersten Akt hat einen nur förmlichen Gestus. Man hörte nicht, auf was für einen Ausnahmerang das geniale Quartett und die Opferszene komponiert sind. Von Mozarts Ausdruckstiefe in den Rezitativen blieb weitgehend nur die ariose Folie. Die gekonnte und alle Abgründe vermeidende musikalische Gestaltung passt indes bestens zu den mediterranen Sandsteinfelsen im Bühnenbild Frank Philipp Schlößmanns.
Rückblick aus der Krankenzelle
Die Handlung erlebt man als Erinnerungsrückblende des kretischen Königs Idomeneo. Zur Ouvertüre steckt er in einer Krankenzelle und kritzelt den Meeresgott Poseidon mit Dreizack auf die Kacheln – ein Strichmännchen neben das andere. Seine Schwiegertochter Ilia, Prinzessin aus dem von der griechischen Monarchen-Allianz vernichteten Troja, schenkt ihm ein kleines Modell des trojanischen Pferdes. Idomeneo erleidet einen schweren Anfall, zwei Wärter verpassen ihm eine Spritze. Immer wieder schleppt sich das greise Idomeneo-Double (Peter Bermes) durch von den Kriegsauswirkungen vor allem psychisch geschädigte Massen. Nach einer Kranzniederlegung am Monument für den inzwischen verstorbenen Herrscher wächst auf dem Gräberplatz endlich Gras über die Kriegsvergangenheit.
Auch der singende Idomeneo rast, taumelt, schwankt mit Kopfbinde durch die durch von zahlreichen Statistenauftritten aufgeputschten Detailepisoden. Möglicherweise bildet er sich dem Meeresgott Poseidon ausgesprochene Gelübde des Menschenopfers, das ausgerechnet sein Sohn Idamante sein soll, nur ein. Die von Visser „Trauma“ genannte Schattenfigur in Schwarz (Daniel Calladine) wirkt wie ein Henker. Diese vielen Details vernebeln das, was sonst in dieser Oper so starke Wirkungen zeigt – existenzielle Konflikte, Opferzwang, Opferbereitschaft und Rettung.
Flache Figuren
In ihrer zweiten Arie weiß Prinzessin Ilia offenbar nicht, ob sie mit dem Dolch auf Idomeneo oder auf sich selbst zielen soll. Was die Figuren in Giambattista Varescos Libretto an Paradoxien artikulieren, nutzt Visser zu bizarren Verhaltensweisen, bei denen er die Chorsolisten einbezieht. Idamantes wichtigster Impuls ist, der ihm äußerst ladylike nachstellenden Elettra zu entgehen. Elettra zeigt sich nach der Flucht aus ihrer Vergangenheit mit Muttermord und wahnsinnig gewordenem Bruder wild entschlossen, mit einer Heirat ein glücklicheres Kapitel in ihrem Lebensroman zu beginnen. Gideon Davey meint bei seinen Kostümen, dass adrettes frauliches Servicepersonal gerade in Kriegszeiten den Glauben an Normalität aufrechterhält.
Extremsituationen
Man sieht viele Extremsituationen, aber man hört wenig von ihnen. In einem für diese komplexe Partie sehr frühen Karrierestadium riskiert Sebastian Kohlhepp den Idomeneo. Die so unterschiedlichen Arien bewältigt er exzellent. Die Koloraturfolgen in „Fuor del mar“ singt er mühelos und findet in der Kavatine am Ende der langen Opferszene nicht zu der in der Komposition angelegten Ausdrucksdichte. Ana Maria Labin gestaltet Elettra wie eine im Edelpensionat vom Ernst des Lebens abgeschirmte Luxusbraut mit Zielort Ehehafen. Kathrin Zukowski gibt eine lyrisch mustergültige Ilia, von deren innerem Aufruhr nichts in die seraphisch glänzende Stimmführung überspringt. Anna Lucia Richters Idamante zeigt sanft wärmende Timbre-Farbspiele. Anicio Zorzi Giustiniani darf beide Arbace-Arien singen und wertet so die Figur auch qualitativ zur weiteren Hauptpartie auf.
Bilderorkan zum Zeitgeschehen
Weder die Sturm-und-Drang-Mode noch der im Umfeld der „Idomeneo“-Uraufführung in der europäischen Kultur gefeierte Emotionsüberschwang wird in der schwierigen Akustik des Saal 2 im Staatenhaus zu jenem Ausnahmeereignis, das „Idomeneo“ sein sollte. Aus der Inszenierung droht in Köln ein Empathieverlust durch einen Bilderorkan von traumatisierten Tätern und in Bewältigungsneurosen getriebenen Opfern. Vissers Inszenierung zeigt gewiss methodisches Zielstreben. Aber dessen routinierte Katastrophenchoreographie verführt im Lauf des Abends zu wachsender Gleichgültigkeit – trotz plastischer Bilder gegen den Krieg.
Oper Köln
Mozart: Idomeneo
Rubén Dubrovsky (Leitung), Floris Visser (Regie), Frank Philipp Schlößmann (Bühne), Gideon Davey (Kostüme), Pim Veulings (Choreografie), Rustam Samedov (Chor), James Farncombe (Licht), Stephan Steinmetz (Dramaturgie),Sebastian Kohlhepp / Dmitry Ivanchey, Anna Lucia Richter, Ana Maria Labin / Emily Hindrichs, Kathrin Zukowski, Anicio Zorzi Giustiniani, John Heuzenroeder, Lucas Singer, Statisterie der Oper Köln,Chor der Oper Köln,Gürzenich-Orchester Köln