Opern-Kritik: Opernfestspiele Heidenheim – Der fliegende Holländer

Senta, das störrische Gothic-Girl

(Heidenheim, 28.7.2017) Georg Schmidtleitner und Marcus Bosch wagen Wagner auf dem anderen Grünen Hügel – und gewinnen

© Oliver Vogel

Szenenbild aus "Der fliegende Holländer"

Der fliegende Holländer/Opernfestspiele Heidenheim

Sie ist eine todessüchtige Extremistin der Liebe. Mit dem kapitalistischen Geschacher ihres noch dazu sexuell übergriffigen Vaters will sie nichts zu tun haben, Senta zieht sich, psychologisch somit mehr als verständlich, zurück in ihre Mädchenkammer, wo allerhand Devotionalien der Gothic-Szene uns von den Träumen einer Aussteigerin erzählen. Besonders das Bildnis eines Gleichgesinnten ist unübersehbar – jenes des namenlosen Holländers, den sie imaginiert, aber noch nie getroffen hat.

Masse und Klasse, Open-Air-Atmosphäre und Opern-Anspruch, Publikumsnähe und interpretatorische Haltung bedingen sich!

Regisseur Georg Schmidtleitner belässt es keineswegs bei der Ruinen-Romantik der stimmungsvollen Burg Hellenstein auf dem Hausberg von Heidenheim, wo auf diesem anderen Grünen Hügel in diesem Sommer Wagners „Der fliegende Holländer“ über die Bühne ging. Der dirigierende Festivalintendant Marcus Bosch und sein Regieteam beweisen: Masse und Klasse, Open-Air-Atmosphäre und Opern-Anspruch, Publikumsnähe und interpretatorische Haltung schließen sich mitnichten aus, nein, sie bedingen sich! Die Opernfestspiele Heidenheim senden ein Ausrufezeichen der Qualität in die ansonsten immer mehr von niedrigschwelligem Kunstkonsum geprägten Sommerfestivals.

Sentas Kraft des Zerstörerischen

Und so verwandelt Georg Schmidtleitner also seine Senta von der schwärmerischen Romantikerin in ein störrisches Gothic-Girl. Die besitzt die Kraft des Zerstörerischen, die ist exzentrisch und unangepasst, ist aufmüpfige Gegenfigur zu all den braven werktätigen Chordamen in Dalands Fabrik, die geradewegs aus einem der erfolgreichen Industriebetriebe Heidenheims stammen könnten und von Vorarbeiterin Mary (Melanie Forgeron) zur Arbeit angetrieben werden.

© Oliver Vogel

Szenenbild aus "Der fliegende Holländer"

Der fliegende Holländer/Opernfestspiele Heidenheim

Holländer sucht Außenseiterin zwecks gemeinsamer Erlösung

Einen entsprechend entfremdeten Durchgangsort hat Stefan Brandtmayr denn auch auf die zwar gar nicht tiefe, aber dafür langgestreckte Bühne gestellt. Es gleicht einem überdimensionierten Container, könnte aber auch die Gangway eines Schiffes sein, durch die neue Waren angelandet werden. Ja, die Burg wird hier gleichsam zum Schiff, auf dem der Holländer als Verdammter durch die Weltmeere segelt, auf der Suche nach einer Außenseiterin, die ihm gleicht, die ihn, so Wagners Wortwahl, einst erlösen wird.

Es gibt deutlich mehr Tote als erwartet

Georg Schmidtleitner, der mit Marcus Bosch in Nürnberg zuvor einen sehr von Heute aus gedachten „Ring“ geschmiedet hat, entdeckt nun bereits im Frühwerk „Der fliegende Holländer“ Wagners dezidiert gesellschaftskritische, ja antikapitalistische Grundüberzeugungen, entdeckt die Radikalität des jungen Gesamtkunstwerkers, in dessen biedermeierlicher Daland-Welt sich allerhand Abgründe auftun. Da wirkt es nur folgerichtig, dass am Ende nicht nur die hysterische Senta freiwillig in den Tod geht und auf diesem Wege mit ihrem Holländer womöglich die Flucht in eine andere Welt antritt. Der szenisch deutlich aufgewertete Steuermann (tenorlyrisch: Martin Platz) sticht zuvor seinen Chef Daland (basswuchtig: Randall Jakobsh) ab, und Senta befördert ihren Ex Erik (heldentenoral bestimmt: Vincent Wolfsteiner) ins Jenseits.

Die Sänger: internationales Festspielniveau

© Oliver Vogel

Szenenbild aus "Der fliegende Holländer"

Der fliegende Holländer/Opernfestspiele Heidenheim

Gesungen wird allenthalben auf internationalem Festspielniveau. Allen voran von dem Wagners Ideal eines „vaterländischen Belcanto“ beglaubigenden Antonio Yang in der Titelpartie eines schwarzen Magiers, bei dem baritonales Legatoempfinden und Deklamationsschärfe einmal kein Widerspruch sind, sowie der Senta der Annette Seiltgen, deren angenehme Sopranschärfe weniger das Mädchenhafte, denn das Selbstbestimmte der Figur in den Fokus rückt. Marcus Bosch verortet die Partitur in ihrer Urfassung (in Ouvertüre wie Finale ohne den später hinzugefügten Erlösungsschluss) gemeinsam mit den Stuttgarter Philharmonikern kompromisslos klar in der Frühromantik: Da herrschen strenge Tempi und aufgeraute Dramatik, Spielopern-Präzision und scharf konturierte Farben.

Opernfestspiele Heidenheim
Wagner: Der fliegende Holländer

Ausführende: Marcus Bosch (Leitung), Georg Schmidtleitner (Regie), Stefan Brandtmayr (Bühne), Cornelia Kraske (Kostüme), Antonio Yang, Randall Jakobsh, Annette Seiltgen, Vincent Wolfsteiner, Melanie Forgeron, Martin Platz, Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn, Stuttgarter Philharmoniker

Schloss Hellenstein - Opernfestspiele Heidenheim

Opernfestspiele Heidenheim

04. Juni bis 31. Juli 2023

1964 als Schloss-Serenaden in der offenen Burgruine auf Schloss Hellenstein gegründet, gehören die Opernfestspiele Heidenheim heute zu den Opernhighlighs in Baden-Würtemberg. weiter

Termine

Samstag, 01.04.2023 19:00 Uhr Hochschule für Musik und Theater München

HSO München, Marcus Bosch

Mendelssohn: Sinfonien Nr. 1 c-Moll op. 11 & Nr. 4 A-Dur op. 90 „Italienische“

Sonntag, 23.04.2023 18:00 Uhr Eurogress Aachen

Simon Bales, Sinfonieorchester Aachen, Marcus Bosch

Dvořák: Ouvertüre „Mein Heim“, Aratjunjan: Trompetenkonzert, Schumann: Sinfonie Nr. 1 op. 38 „Frühlingssinfonie“

Montag, 24.04.2023 20:00 Uhr Eurogress Aachen

Simon Bales, Sinfonieorchester Aachen, Marcus Bosch

Dvořák: Ouvertüre „Mein Heim“, Aratjunjan: Trompetenkonzert, Schumann: Sinfonie Nr. 1 op. 38 „Frühlingssinfonie“

Sonntag, 30.04.2023 18:00 Uhr Festspielhaus Congress Centrum Heidenheim

Lise de la Salle, Cappella Aquileia, Marcus Bosch

Prokofjew : Klavierkonzert Nr. 3 C-Dur op. 26, Schubert: Große Sinfonie C-Dur

Freitag, 05.05.2023 19:30 Uhr Münster Konstanz

Bruckner: Sinfonie Nr. 7 E-Dur

Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz, Marcus Bosch (Leitung)

Sonntag, 14.05.2023 18:00 Uhr Volkstheater Rostock

Herbert Schuch, Norddeutsche Philharmonie Rostock, Marcus Bosch

Haydn: Sinfonie Nr. 93 D-Dur Hob. I:93, Grieg: Klavierkonzert a-Moll op. 16, Prokofjew: Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 44

Montag, 15.05.2023 19:30 Uhr Volkstheater Rostock

Herbert Schuch, Norddeutsche Philharmonie Rostock, Marcus Bosch

Haydn: Sinfonie Nr. 93 D-Dur Hob. I:93, Grieg: Klavierkonzert a-Moll op. 16, Prokofjew: Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 44

Dienstag, 16.05.2023 19:30 Uhr Volkstheater Rostock

Herbert Schuch, Norddeutsche Philharmonie Rostock, Marcus Bosch

Haydn: Sinfonie Nr. 93 D-Dur Hob. I:93, Grieg: Klavierkonzert a-Moll op. 16, Prokofjew: Sinfonie Nr. 3 c-Moll op. 44

Sonntag, 21.05.2023 11:00 Uhr Volkstheater Rostock

Wunschkonzert

Norddeutsche Philharmonie Rostock, Studierende der Dirigierklasse der HMT München (Leitung), Marcus Bosch (Moderation)

Sonntag, 21.05.2023 16:00 Uhr Volkstheater Rostock

Wunschkonzert

Norddeutsche Philharmonie Rostock, Studierende der Dirigierklasse der HMT München (Leitung), Marcus Bosch (Moderation)

Rezensionen

CD-Rezension Marcus Bosch

Lohnende Ausgrabung

Der heute weitgehend vergessene österreichische Komponist Emil Nikolaus von Rezniček wird gerade wiederentdeckt – Marcus Bosch macht Lust auf diese Musik weiter

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