Die Ruhrtriennale hat sich längst etabliert. Mit einer aller drei Jahre wechselnden Intendanz gibt es ein Kontinuum des künstlerisch Besonderen. Und des regional Ererbten. Was Gerard Mortier hier für die einstigen Kathedralen des Industriezeitalters etabliert hat, konfrontiert den Alltag in Bochum und Essen, in Duisburg oder Gladbeck zwar immer noch mit einem Hauch des ganz Anderen. Es hat aber doch sein Publikum, das den besonderen Charme dieser Art von experimentellen Kunstanstrengungen, jenseits der etablierten Strukturen, zu schätzen weiss. Ein Publikum, das im vergangen Jahr auch diese besondere Festspielfarbe (neben Bayreuth, Salzburg, Bregenz oder wo auch immer) schmerzlich vermisst hat.
Um ins Ruhrgebiet aufzubrechen, bedarf es einer Neugier auf das Außergewöhnliche. Repertoire wird anderswo gepflegt. Nachdem die Intendanz von Stephanie Carp – nicht ganz ohne politisches Gezerre um eine umstrittene Rednereinladung – pandemiebedingt in einem Ausweichen ins Internet endete, hat jetzt Barbara Frey für drei Jahre übernommen. Und sich selbst das Recht der ersten Nacht mit einer dunkel poetischen Inszenierung von Edgar Ellen Poes Novelle „Der Untergang des Hauses Usher“ vorbehalten. Die Aura der Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck war dabei die halbe Miete für eine nahezu authentische Schauerromantik.
Schräger Surrealismus und experimentierfreudige Musik
Für die erste große Musiktheaterpremiere konnte man auf die erprobte Anpassungsfähigkeit der Jahrhunderthalle in Bochum bauen. Für „Bählamms Fest“ hatten sich die Experimentierfreude der Komponistin Olga Neuwirth und die Vorliebe von Elfriede Jelineck für eine Sprachmusik des Abgründigen schon 1999 zu einer bei den Wiener Festwochen uraufgeführten Oper in 13 Bildern zusammengefunden. Frauenpower aus Österreich. Im Doppelpack. Mit viel Sinn fürs düster Schaurige, samt entsprechendem Witz. In Deutschland kam das Werk erstmals kurz darauf in Hamburg auf die Bühne des Deutschen Schauspielhauses. Wobei sowohl der schräge Surrealismus als auch die sinnlich experimentierfreudige Musik gut zu einem Festival passt.

Dem Libretto liegt das „Das Fest des Lamms“ (1940) von Leonora Carrington (1917 – 2011) zu Grunde. Die heute vergessene Autorin hatte für einige Jahre mit Max Ernst zusammengelebt. Dass der Surrealismus da zum Hausstand gehörte, spiegelt sich in der schrägen Geschichte der Familie Carnis wieder, mit der sie wohl auch einen Teil ihrer eigenen Biographie zu verarbeiten suchte. Diese schreckliche und kein bisschen nette Familie Carnis wird dominiert vom exemplarischen Schwiegermutterdrachen Margret. In dieser Rolle sitzt Hilary Summers wie eine Diva im Rollstuhl, lässt sich vom Diener Robert das Strickzeug reichen. Drangsaliert mit einer Mischung aus gesprochenen und gesungenen Passagen aber auch ihren Sohn Philip (Dietrich Henschel) und dessen junge Frau Theodora (koloratursicher: Katrien Baerts). Der jungen Frau bleibt der Rückzug ins Kinderzimmer und die Flucht in eine Affäre mit dem Wolfsmenschen Jeremy (dem Counter Andrew Watts).
Blick in den Abgrund
Aber auch Philips verschwundene erste Frau Elizabeth (Gloria Rehm) taucht mit Rachefuror wieder auf. Sie alle treffen in und um einem schlichten, auf einer Drehscheibe platzierten Haus zusammen, dessen eine Giebelwand sich einfach abklappen und wieder aufrichten lässt. Die gegenüber liegende Wand kann sowohl von innen als auch von außen durch raffinierte Videoprojektionen ein Eigenleben entfalten. Da doppeln sich die Menschen, da sieht man wie von aussen der Körpern eines kopflosen Lamms gegen die Scheibe prallt und mit einer Blutspur auf den Boden rutscht. Schaut man von außen auf diese Wand, wird sie zur Projektionsfläche für ein lauerndes Rudel Wölfe mit stechend leuchtenden Augen. Wenn die projizierte Glasscheibe von Steinen getroffen wird, dann blitzen nach und nach Felder auf, die an Störungen auf einem Computerbildschirm erinnern. Das ist wie der Einbruch einer anderen Zeitschiene. Ansonsten dominiert die starke atmosphärische Wirkung, die die in ihrer Kargheit dennoch opulente Heidelandschaft entfaltet. Ausstatterin Nina Wetzel hat die in die Jahrhunderthalle gepflanzt. Samt selbstleuchtendem Teich – mal mit, mal ohne Wasser.

Die Musiker des Ensemble Modern und ihr Dirigent Sylvain Cambreling sind sichtbar neben der Spielfläche postiert und entfalten angereichert durch reichlich, aber gut dosierte Live Electronic das lustvolle Klanguniversum Olga Neuwirths. Mit eigenwilligen Parladobegleitungen, geradezu filmtauglichen atmosphärischen Einfärbungen und beherztem Zugriff auf alles, was die Musikgeschichte bereithält. So wie das irische Regieduo Dead Centre (Ben Kidd und Bush Moukarzel) meist den Kontakt zum Heideboden hält und lediglich mit Versatzstücken das nachvollziehbar Alltägliche behauptet, so streben die Melange aus raumgreifendem Klang samt szenischem Instinkt und die Präsenz der Jahrhunderthalle in die surrealen Hinter- und Abgründe einer Geschichte, in der auch für die Überlebenden (wie Theodora) höchstens Überleben drin ist. Im musikalischen Ausblenden und Verstummen endet daher dieser Blick in den Abgrund.
Ruhrtriennale
Neuwirth: Bählamms Fest
Sylvain Cambreling (Leitung), Dead Centre (Regie), Nina Wetzel (Bühne & Kostüme), Jack Phelan (Video), Patrick Fuchs (Licht), Katrien Baerts, Dietrich Henschel, Andrew Watts, Marcel Beekman, Gloria Rehm, Linsey Coppens, Graham F. Valentine, Lydia Kavina (Theremin Vox), José Miguel Fernandez (Live-Electronik Performance) Ensemble Modern, Solisten des Knabenchores der Chorakademie Dortmund