Bedeutet das Interesse an Charles Gounods Shakespeare-Vertonung durch die Intendantinnen Nora Schmid an der Semperoper Dresden und Elisabeth Sobotka in der Berliner Staatsoper Unter den Linden einen Trendwechsel von Wokeness und Cancel Culture zu ehrlicher Oper mit echtem Herz? Beide setzten in ihrer jeweils ersten Spielzeit das wegen seiner frenetischen Lyrik umstrittene, aber mitreißende Drame lyrique „Roméo et Juliette“ auf den Premierenplan.
Die Dresdner Premiere des 1867 in Paris uraufgeführten Juwels punktete in erster Linie mit einer musikalisch sensiblen Prachtleistung. Damit hatte diese Produktion größeres Glück als die arglos dünne Inszenierung von Mariame Clément in Berlin. Der Jubel weitete sich in der Semperoper zum Steppenbrand. Die Voraussetzungen waren dort auch deshalb besser, weil die Regisseurin Barbara Wysocka und der Dirigent Robert Jindra keine rationale Distanz zur im deutschsprachigen Opernraum lange Zeit unter Kitschverdacht gestandenen Musik aufbauten.

Hohle Eleganz
Jindras Eifer, Elan und Enthusiasmus ließen am Premierenabend nur ein einziges Mal nach – ausgerechnet beim großen 15-Minuten-Liebesduett des vierten Aktes über Nachtigall und Lerche. Daran ist die Schauspielerin und Filmemacherin Wysocka nicht unschuldig. Die Liebenden von Verona erwachen unter einer Decke im Betonkeller. Sie halten aber mindestens 30 Zentimeter Abstand und geraten nur einmal kurz in den von Shakespeare und Gounod beschworenen Jugendsturm der Leidenschaft und Unbedingtheit. Vielleicht ist das Ambiente zu einschüchternd: Die Bühnenbildnerin Barbara Hanicka imitierte Prachtfassaden im Mussolini-Stil. Der ziemlich reaktionslahme Geldadel von Verona leistet sich trotz rauer Bürgerkriegszeiten ein von Julia Kornackas Galakollektion aufgehübschtes Partyleben. Für Shakespeares Zoten ist da kein Raum, wohl aber für Projektionen seiner schicksalswuchtigen Satzkeulen.

Einige Regie-Ratlosigkeiten taucht das Licht professionell in mediterrane Dämmerstimmungen
Kein Wunder, dass Juliette schon nach ihrem Debütantinnen-Entrée schnell die Lust am Glamour verliert und vor dem noch langweiligeren Pâris (Gerrit Illenberger) flüchtet. Vetter Tybalt – ihn gibt Brian Michael Moore als auch stimmlich eleganten Tenor-Beau – ist neben dem feierfreudigen Vater (Oleksandr Pushniak mit jovialem Schrot, Korn und vollständigen Couplets) die einzige Charaktermarke im Hause Capulet. Michal Doron als Gertrude gibt nicht zu erkennen, ob sie neben Gesellschafterinnen-Dienstpflichten irgendein affektives Interesse an Juliette hat. Wysocka kommt in ihrer Regie also nicht so recht über das Hülsenschieben in besseren Kreisen hinaus. Fabio Antocis mediterranes Dämmerlicht bringt auch die Mussolini-Fassaden zum Leuchten und dimmt einige Ratlosigkeiten Wysockas professionell weg. Die musikalische Profilierung bleibt gegenüber der szenischen immer in einem gewaltigen Vorsprung.

Musikalisch kongenial
Interessant ist die veränderte Reihung der Schlussszenen. Das Ballett wurde gestrichen. Auf die heroische Arie Juliettes folgt sofort die Orchester-Reminiszenz zum Arioso von Père Laurent (Georg Zeppenfeld großartig auch im französischen Fach), darauf der Hochzeitszug mit Juliettes Zusammenbruch in den Scheintod und das hier beibehaltene Rezitativ Laurents mit Bruder Jean vor der Sterbeszene der Liebenden. Wohlweislich hindert Wysocka niemanden an Entfaltung der für Gounods Drame lyrique unverzichtbaren Gesangsemphase und emotionalen Entfesselung.
Jindra musste hier keinen Nachhilfeunterricht in französischer Stilkompetenz geben. Der von Jan Hoffmann bravourös eingewiesene Sächsische Staatsopernchor schwebt über den Walzern des ersten Aktes und setzt einen erschütternden Nekrolog für die sich killenden Feinde Mercutio und Tybalt. Danylo Matviienko singt als Mercutio bezwingende Fee-Mab-Couplets und positioniert sich mit testosteronischer Eleganz. Valerie Eickhoff bringt als Stéphano ein hochwertiges Tauben-Couplet, wirkt aber bei den ordinären Gesten unbedarft.

Liebesaffäre von Stimmen und Orchester
Jindras dirigiert diese Oper mit leichtgewichtigem, im Kampffinale dann doch monumentalem Ernst und vor allem mit liebevollem Können. Die Sächsische Staatskapelle sollte viel häufiger Gounod, Massenet und Thomas spielen. Französische Musik des späteren 19. Jahrhunderts passt erstaunlich gut zur lokalen Richard-Strauss-DNA und macht von der Staatskapelle auf ganz hohem Level staunen, nicht zuletzt wegen der orchestralen Zärtlichkeitsoffensiven mit dem zentralen Paar. Dieses ist einfach umwerfend, auch weil etwas kräftiger besetzt und dennoch in bezwingend naher Affinität zu Gounod – mit Höhenfunkeln und drumherum beim Schwelgen über den vielen elegischen Momenten.
Der Tenor Kang Wang lässt als Roméo im Strahl und in der kräftigen, aber lyrischen Vokalkonsistenz sogar an Neil Shicoff denken. Auch Tuuli Takala ist eine eher breite als filigrane und mit bemerkenswert viel Wärme bis in die Extremhöhen gesegnete Juliette. Wie es sein soll, fiebert man vom Madrigal zur ersten Begegnung über die Ariosi der Balkonszene bis zu den gegen Ende immer häufigeren Elegien zur schicksalhaften Verstrickung intensiv, manchmal sogar bei angehaltenem Atem mit.
Das liegt auch an Jindras kongenialem Mitdenken für die strukturelle Dramaturgie Gounods, der hier eine der ersten Opern mit sich vom Massenspektakel-Beginn zur intimen Apokalypse verengenden Raum- und Seelenraumkonzept lieferte. Wenn Soli, Chor und Orchester sich zu einer solch sinnfällig erstklassigen Musikleistung vereinen wie an der Semperoper, verzeiht man sogar die szenische Negierung von Drastik und Tiefgang dieser Liebestragödie.
Semperoper Dresden
Gounod: Roméo et Juliette
Robert Jindra (Leitung), Barbara Wysocka (Regie & Video), Barbara Hanicka (Bühne), Julia Kornacka (Kostüme), Jan Hoffmann (Chor), Fabio Antoci (Licht), Benedikt Stampfli (Dramaturgie), Tuuli Takala, Kang Wang, Georg Zeppenfeld, Danylo Matviienko, Oleksandr Pushniak, Michal Doron, Valerie Eickhoff, Brian Michael Moore, Gerrit Illenberger, Anton Beliaev, Jongwoo Hong, Tilmann Rönnebeck, Meinhardt Möbius,Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Sächsische Staatskapelle Dresden
Termintipp
Di., 06. Mai 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Gounod: Roméo et Juliette
Tuuli Takala (Juliette), Kang Wang (Roméo), Michal Doron (Gertrude), Brian Michael Moore (Tybalt), Oleksandr Pushniak (Capulet), Gerrit Illenberger (Pâris), Robert Jindra (Leitung), Barbara Wysocka (Regie)
Termintipp
Fr., 09. Mai 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Gounod: Roméo et Juliette
Tuuli Takala (Juliette), Kang Wang (Roméo), Michal Doron (Gertrude), Brian Michael Moore (Tybalt), Oleksandr Pushniak (Capulet), Gerrit Illenberger (Pâris), Robert Jindra (Leitung), Barbara Wysocka (Regie)
Termintipp
Fr., 16. Mai 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Gounod: Roméo et Juliette
Tuuli Takala (Juliette), Kang Wang (Roméo), Michal Doron (Gertrude), Brian Michael Moore (Tybalt), Oleksandr Pushniak (Capulet), Gerrit Illenberger (Pâris), Robert Jindra (Leitung), Barbara Wysocka (Regie)
Termintipp
So., 25. Mai 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Gounod: Roméo et Juliette
Tuuli Takala (Juliette), Kang Wang (Roméo), Michal Doron (Gertrude), Brian Michael Moore (Tybalt), Oleksandr Pushniak (Capulet), Gerrit Illenberger (Pâris), Robert Jindra (Leitung), Barbara Wysocka (Regie)
Termintipp
Do., 29. Mai 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Gounod: Roméo et Juliette
Tuuli Takala (Juliette), Kang Wang (Roméo), Claude Eichenberger (Gertrude), Brian Michael Moore (Tybalt), Oleksandr Pushniak (Capulet), Gerrit Illenberger (Pâris), Robert Jindra (Leitung), Barbara Wysocka (Regie)