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Opern-Kritik: Staatsoper Hannover – Parsifal

Wer brav gehorcht, schafft keine Revolution

(Hannover, 24.9.2023) Der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson lässt in Wagners Weltabschiedswerk „Parsifal“ bildmächtig Archetypen mit der Gegenwart verschmelzen und macht neugierig auf sein Bayreuth-Debüt im kommenden Jahr.

vonPeter Krause,

Die verkohlten Stümpfe langer dünner Bäume künden von den Katastrophen von Krieg und Klimakrise. Und die erschlafften Männerkörper, die um diese längst nicht mehr blühenden Landschaften herum lagern, legen eindeutig nahe, dass die einst zu weltweiten Rettungseinsätzen ausrückenden Gralsritter ihre genuinen heilsbringenden Aufgaben längst nicht mehr erfüllen können. Ermüdet und lethargisch kreisen die Herren um sich selbst, schöpfen allerletzte Kräfte aus einem Bassin, das Wasser und womöglich auch Blut enthält. Bühnenbildner Wolfgang Menardi hat seinem Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson, der im kommenden Jahr bei den Bayreuther Festspielen „Tristan und Isolde“ in Szene setzen wird, für diesen „Parsifal“ das starke Bild einer archaischen Dystopie ersonnen. Archetypen verschmelzen darin mit der Gegenwart, die von Richard Wagner beschworenen Zeiten des immer wahren, uns also immer wieder nahen Mythos ragen hinein in ein mögliches baldiges Ende der Welt. Trostlosigkeit macht sich breit zu Wagners ätherisch himmelwärts strebenden Gralsklängen des Vorspiels. Und doch ist der isländische Regisseur mit seiner düsteren „Parsifal“-Vision, die ähnlich apokalyptisch daherkommt wie die der Endzeit nach einem Atomschlag nachspürende, längst historische von Rolf Liebermann in Genf, ganz nah dran am politisch hellwachen Richard Wagner. Denn Illusionen über die gesellschaftlichen Systeme von Staat und Kirche, die zu seiner Lebenszeit herrschten, machte sich der reife Bayreuther Meister mitnichten. Gnadenlos und wortgewaltig rechnete er mit deren Unvermögen ab, sich zu erneuern. Seine späte Hinwendung zur buddistisch-schopenhauerschen Mitleidsethik, zu Vegetarismus und Pazifismus spricht Bände. Eine gesellschaftliche Revolution im Hier und Jetzt erwartete er nicht mehr – allenfalls in der intensiven Beschäftigung mit der Kunst, will sagen: mit seiner Kunst, sah er noch utopisches Potenzial.

Szenenbild aus „Parsifal“ an der Staatsoper Hannover
Szenenbild aus „Parsifal“ an der Staatsoper Hannover

Chronisch müde Männer hoffen auf den Heilsbringer von außen

Die vom siechen König Amfortas unbarmherzig eingeforderte, weil sein Leiden erneuernde Enthüllung des Grals erquickt die müden Männer denn auch nur für kurze Frist. Alsbald fallen sie zurück in ihre Ermattung. Eine Lösung ihrer aktuellen Probleme mit den Mitteln der Vergangenheit hat keine Chance auf Erfolg. Verben als kollektive Imperative laufen auf einem roten Schriftband in englischer Sprache über die Bühne, „adapt, aspire, preserve, connect, serve, trust“ sind darunter – und immer wieder, später dann in Endlosschleife wiederholt: „obey“. Gehorche! So lautet die Losung dieses mönchischen Bundes. Freiheit, aus der Ideen, Perspektivwechsel und Erlösung hervorgehen könnten, kommt darin nicht mehr vor. Und so richten sich alle Hoffnungen auf einen Heilsbringer, der von außen in dieses geschlossene System eindringt – und es für sie richten soll. „Der reine Tor“ erscheint als vielversprechende Prophezeiung und schließlich auch wirklich – in Person eines Knaben, der in seiner Unschuld zwar nichts versteht, aber womöglich „durch Mitleid wissend“ doch erspüren und erfühlen wird, was hier so gründlich falsch läuft.

Szenenbild aus „Parsifal“ an der Staatsoper Hannover
Szenenbild aus „Parsifal“ an der Staatsoper Hannover

Anregendes Spiel der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Thorleifur Örn Arnarsson lässt an der Staatsoper Hannover tatsächlich einen echten Knaben auftreten. Der Sänger des Parsifal, der hellstimmige Tenor Marco Jentzsch, der mit seiner vokalen Zeichnung der Titelfigur in die Fußstapfen von Klaus Florian Vogt tritt, er bringt den Jungen mit auf die Bühne, zunächst als jenen von ihm totgeschossenen Schwan. Doch der torenhafte Knabe bleibt putzmunter lebendig, er ist hier letztlich die unwissend unerfahrene, die jugendlich naive Seite des männlichen Parsifal, der im ersten Aufzug dann nur singt und seiner kindlichen Anima die gestisch-szenische Interaktion mit Gurnemanz überlässt. Doch der Regisseur nutzt die Dopplung der Figur auch zu einem anregenden Spiel der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Denn die erste Begegnung – hier ein intensiver Blick vom einem zum anderen Bühnenportal – mit der doppelgesichtigen Kundry – Hure und Heilige, Verführerin und Dienerin – nimmt bereits das erotische Erkennen des zweiten Aufzugs vorweg. Und das erneute Aufeinandertreffen von Amfortas mit Kundry ist, parallel zu der entsprechenden Erzählung der Vorgeschichte durch Gurnemanz, zugleich ein Déjá-vue ihrer fatalen sexuellen Erfahrung, die Amfortas einst um den heiligen Speer brachte, den er dabei an Widersacher Klingsor verlor. Geschickt dramatisiert der Regisseur so den epischen Stillstand des Stücks, lockert durch Nebenhandlungen den sonst so langen ersten Aufzug auf. Und setzt nebenbei auch locker spielerisch das philosophisch verschwurbelte Diktum „Zum Raum wird hier die Zeit“ um. Zeit ist beim späten Wagner kein Kontinuum mehr, sondern gleicht eben bereits eher jener Kugelgestalt, die sein Kollege Bernd Alois Zimmermann dann im 20. Jahrhundert konkret so benennen sollte.

Szenenbild aus „Parsifal“ an der Staatsoper Hannover
Szenenbild aus „Parsifal“ an der Staatsoper Hannover

Unzüchtige Nonnen fristen gleich graumausigen Sexsklavinnen eines durch Zuhälter Klingsor geführten Harems ihr Dasein

Die Parallelwelt von Klingsors Zaubergarten im zweiten Aufzug ist hier nun keine positive Gegenwelt der körperlichen Lust, sondern nur die helle Spiegelung des düsteren Gralsbezirks. Ein repressives, in seinen Imperativen („obey!“) perfektioniertes System ist also auch Klingsors Reich, in der unzüchtige Nonnen gleich graumausigen Sexsklavinnen eines durch Zuhälter Klingsor geführten Harems ihr Dasein fristen und die sie reglementierenden Verben artig an die weißen Wände schmieren. Edel-Höllenrose Kundry läuft hier zu Hochform auf, als sie den nun männlich erwachsenen Parsifal in ihre Fänge bekommt. Irene Roberts ist als Wanderin zwischen den Welten die aufregendste, allwissende und alles beobachtende Frau. Und sie macht die eigentlich relevante Entwicklung unter allen Figuren durch. Im dritten Aufzug, in dem ihr nurmehr die Worte „Dienen, dienen“ vergönnt sind, entzieht sie sich dem Erlösungsangebot, das Parsifal ihr mit dem Sakrament der Taufe angedeihen lassen will. Kundry emanzipiert sich aus den von Männern dominierten beiden Welten, überlebt am Ende, führt zwar noch den in drei Alters-Inkarnationen erscheinenden Parsifal zurück ins Geschehen und damit seiner möglichen neuen großen Aufgabe zu. Sie selbst aber distanziert sich von beiden Welten, macht fortan ihr eigenes Ding.

Szenenbild aus „Parsifal“ an der Staatsoper Hannover
Szenenbild aus „Parsifal“ an der Staatsoper Hannover

Ein Kind soll nun die Welt retten?

Die bildmächtige Konsequenz, mit der Thorleifur Örn Arnarsson die ersten beiden Aufzüge baut, geht ihm im dritten Akt zwar ein wenig verloren, den er letztlich offen und fragend enden lässt: Der Parsifal-Knabe bleibt allein auf der Bühne zurück, blickt uns alle an. Und wir dürfen uns nun fragen: Ein Kind soll nun die Welt retten? Kann das klappen? Man merkt freilich bis zum dunkel-hellen Ende, wie aufrichtig der Regisseur mit dem Wagner-Werk ringt, wie ehrlich er es auf den desolaten Zustand unserer Gegenwart bezieht, ohne sich in modische Versatzstücke aktueller Diskurse zu retten.

Szenenbild aus „Parsifal“ an der Staatsoper Hannover
Szenenbild aus „Parsifal“ an der Staatsoper Hannover

Musikalische Wagner-Kompetenz mit Höhen und Tiefen

Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover beweist parallel, dass es eine ausgeprägte Wagner-Kompetenz besitzt. Die Holzbläserfarben sind fein abgemischt, die Streicher glühen edel ausgehört – da spürt man musikalisch eine Kultur der Achtsamkeit und der utopischen Möglichkeiten, die von der Szene bewusst nicht bedient werden, aber gerade so ein anregendes Spannungsfeld zwischen dem brutalen Realitätsbezug des Auges und dem zarten Idealitäts- und Emotionalitätspotenzial des Ohres bilden. GMD Stephan Zilias kann mit den erotisch-nervösen Umschwüngen des zweiten Aufzugs indes mehr anfangen als mit den himmlischen Längen der Rahmenakte im Gralsgebiet. Er überführt das feine Musizieren seines Orchesters zumal im ersten Aufzug nicht in jenes agogisch austarierte, gleichsam ewige Fließen, das Wagner mit der „Kunst des feinsten Übergangs“ bezeichnete. Gleichwohl gelingt dann im dritten Aufzug ein dichtes lyrisches Erzählen in (von ein paar Premierenunsicherheiten abgesehen) hoher Klangkultur. Sängerisch schwankt der Abend zwischen Wagner-Weltklasse (Irene Roberts als Kundry) und Bayreuth-Expertise (Michael Kupfer-Radecky als unfasslich intensiver Klingsor und nicht ganz so starker Amfortas) auf der einen Seite mit regionaler Größe auf der anderen (Shavleg Armasi als wacker deklamierender, aber nicht wirklich allzu sehr differenzierender Gurnemanz-Bass). Ein sehr starker, zu Diskussionen anregender Musiktheater-Abend ist in Hannover allemal zu bestaunen.

Staatsoper Hannover
Wagner: Parsifal

Stephan Zilias (Leitung), Thorleifur Örn Arnarsson (Regie), Wolfgang Menardi (Bühne), Karen Briem (Kostüme), Andri Hrafn Unnarson (Nachhaltigkeitsdesign Kostüm), Sascha Zauner (Licht), Lorenzo Da Rio (Chor), Tatiana Bergh (Kinderchor), Regine Palmai Dramaturgie, Michael Kupfer-Radecky, Daniel Eggert, Shavleg Armasi, Marco Jentzsch, Irene Roberts, Philipp Kapeller, Markus Suihkonen, Chor der Staatsoper Hannover, Extrachor der Staatsoper Hannover, Kinderchor der Staatsoper Hannover, Niedersächsisches Staatsorchester Hannover

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