Der riesige Schlussapplaus signalisiert trotz eines hartnäckigen Buhers: Sie sind das Dreamteam der Oper Nürnberg – zusammengeschweißt bereits in ihrer dritten gemeinsamen Produktion. Die Sopranistin Andromahi Raptis und der Tenor Sergei Nikolaev wuchsen an- und miteinander in „Der Liebestrank“ und „Luc(i)a di Lammermoor“. Die italienische Regisseurin Ilaria Lanzino schärfte dazu die Plots. In der Neuproduktion von „La traviata“, die bei der Uraufführung 1853 in Venedig aus verschiedenen Gründen einen Eklat auslöste, gerät das Gesellschaftspanorama des seither äußerst beliebten und deshalb leicht gefährlichen Repertoirefavoriten zu einer höchst aktuellen Sittenstudie Lanzinos. Jetzt tritt an die Stelle von Alexandre Dumas Fils‘ „Kameliendame“ und Verdis Adaption zur Geschichte einer „Gestrauchelten“ das Schicksal eines Opfers von Social Media und der anonymen Gewalt von Shitstorms. Diese verdichtete Aktualisierung geht verblüffend gut, konsequent und logisch auf.

Das Internet vergisst nicht, auch nicht der digitale Schwarm
Wieder einmal agiert Lanzino in ihrer Gegenwartstopographie mit der Drastik einer Dokumentarrecherche – mit der gleichen Härte wie Dumas‘ Roman „La Dame aux camélias“, in dem der Protagonistin Marguerite Gautier das peinliche Schicksal gealterter Kurtisanen durch ihren frühen Tod erspart bleibt: Die Schwindsucht beschleunigt sich durch das Ende einer eskalierenden und an der bürgerlichen Konvention zerbrechenden Liebesgeschichte.
Nichts davon bei Lanzino. Bei ihr wird Violetta, die in einem Club zu viel getrunken hat, während des Vorspiels zum Opfer eines Missbrauchs durch fünf Männer mit Stiermasken. Einer filmt, das Video geht viral, die Comments explodieren vor Häme, und Violetta traut sich erst nach geraumer Zeit vermummt wieder in den Club. Jetzt ist sie auf immer stigmatisiert – außer bei ihren Freunden. Alfredo lernt sie lieben und stellt sie seiner großbürgerlichen Familie vor, während Violetta vorerst von Trauma und beschmutztem Selbstwertgefühl loskommt. Doch der Bräutigam von Alfredos Schwester erkennt in der Freundin seines zukünftigen Schwagers die „Bitch“ aus dem Video.
Andrea Moses zeigt Violetta am Deutschen Nationaltheater Weimar derzeit als emanzipierte Frau, welche das Streaming noch kurz vor ihrem Tod für eine allerletzte Performance nutzt und damit selbstbewusste Aktionsautonomie beweist. Anders die Violetta Lanzinos: Diese ist Opfer, gewinnt im Kreis ihrer Freunde erst langsam wieder Selbstvertrauen gegen die nicht aufzuhaltende persönliche Entblößung und anonyme Denunziation. Aber nicht lange!

Hoffnungsfunke Solidarität
Lanzinos Disco- und Clubszenen sind absehbar. Carola Volles macht mit realistisch differenzierten Kostümen Violettas kleine Clique kenntlich als Freunde durch dick und dünn. Auch hier schimmert Lanzinos Utopie durch, dass Solidarität nicht völlig, aber vielleicht etwas helfen kann. Trotz des kaltweißen Klinikbettes und des seinen Dienst wacker nachgehendem Doktor Grenvil (Nicolai Karnolsky) stirbt Violetta nicht ganz so traurig wie sonst. Lanzino setzt nicht auf Apotheose, sondern pralles Leben mit kindlichem Schluchzen und offenen Armen: Die der Freundin Flora, um die Violetta viele beneiden müssten (ideal: Sara Šetar), eines Paradiesvogels Gaston (sympathisch: Kellan Dunlap) und Kumpels Obigny (nett: Wonyong Kang). Dazu kommt die aufgrund der zum Konzeptverständnis notwendigen Striche erst spät auftretende Annina (zwangsläufig unauffällig: Laura Hilden).

Bulls contra Bunnies
Auf der stufenförmige Bühne Martin Hickmanns drücken sich das nüchtern weiße Interieur der Familie Germonts und Violettas Krankenbett mit Sauerstoffmaske in den schwarzen Club. So richtig gefährlich sind die Testosteron-Bolzen dort nicht. Demian Matushevskyi als Vergewaltiger und Baron Douphol ist ein ziemlich schmales Hemd. Die Massenszenen mit unter Tarmo Vaasks Einstudierung brillant durchgezogenen Chören entwickeln einen mehr kräftigen als gefährlich lasziven Drive, nicht nur weil es ordentlich glitzert. Die binäre Straffung von Bulls contra Bunnies funktioniert auf der Bühne und im Netz.
Björn Huestege dirigiert einen transparenten, aber nicht straffen Verdi. Trotz berückend schöner Bläserpassagen der Staatsphilharmonie Nürnberg dominieren an diesem Abend die hohen Streicher mit einem sehnig bis weichen Ton, der in den Vorspielen und Ariosi unter die Haut und zu Herzen geht. Alles klingt von der Staatsphilharmonie Nürnberg organisch, individuell und macht den Ausnahmecharakter dieser Partitur deutlich, in der Verdi dem Genre der französischen Opéra-comique so nah wie sonst nie kommt.

Starke Hauptpartien aus dem Ensemble
Die drei Hauptpartien sind auf individuelle Weise glänzend. Über Sangmin Lee ist alles gesagt, wenn man erwähnt, dass er die beiden Arien von Vater Germont durchweg im Piano singt und den Verhinderer von Violettas und Alfredos Liebe so zur Sympathiefigur macht. Auch in dieser Inszenierung Lanzinos ist die zentrale Liebesbeziehung nicht von innen, sondern von außen gefährdet. Andromahi Raptis setzt gegen Ende immer mehr elegische bis abgründig melancholische Farben. Die Entwicklung von den Koloraturen zu den später vorherrschenden Legato-Kantilenen nimmt sie beeindruckend einheitlich. Bei Lanzino ist der phänomenal singende Alfredo in Gestalt von Sergei Nikolaev kein Choleriker. Die neue Nürnberger „Traviata“ sollte man hören und sehen. Man erlebt keine bemühte Aktualisierung, sondern die Rückgewinnung von theatralem und relevantem Zündstoff eines Meisterwerks.
Staatstheater Nürnberg
Verdi: La traviata
Björn Huestege (Leitung), Ilaria Lanzino (Regie), Martin Hickmann (Bühne), Carola Volles (Kostüme), Tarmo Vaask (Chor), Max Hammel, Lisa Rodlauer (Video), Susanne Reinhardt (Licht), Wiebke Hetmanek (Dramaturgie), Andromahi Raptis (ViolettaValéry), Sergei Nikolaev (Alfredo Germont), Sangmin Lee (Giorgio Germont), Sara Šetar (Flora Bervoix), Kellan Dunlap (Gastone), Demian Matushevskyi (Baron Douphol), Wonyong Kang (Marquis von Obigny), Nicolai Karnolsky (Doktor Grenvil), Andrea Schwendtner (Mutter), Laura Hilden (Annina), Chor des Staatstheater Nürnberg, Statisterie des Staatstheater Nürnberg, Staatsphilharmonie Nürnberg
Mi., 08. Oktober 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Verdi: La traviata
Andromahi Raptis (Violetta), Sara Šetar (Flora Bervoix), Laura Hilden (Annina), Sergei Nikolaev (Alfredo Germont), Björn Huestege (Leitung), Ilaria Lanzino (Regie)
Mo., 13. Oktober 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Verdi: La traviata
Andromahi Raptis (Violetta), Sara Šetar (Flora Bervoix), Laura Hilden (Annina), Sergei Nikolaev (Alfredo Germont), Björn Huestege (Leitung), Ilaria Lanzino (Regie)
Do., 16. Oktober 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Verdi: La traviata
Andromahi Raptis (Violetta), Sara Šetar (Flora Bervoix), Laura Hilden (Annina), Sergei Nikolaev (Alfredo Germont), Björn Huestege (Leitung), Ilaria Lanzino (Regie)
So., 26. Oktober 2025 15:30 Uhr
Musiktheater
Verdi: La traviata
Andromahi Raptis (Violetta), Sara Šetar (Flora Bervoix), Laura Hilden (Annina), Sergei Nikolaev (Alfredo Germont), Björn Huestege (Leitung), Ilaria Lanzino (Regie)
Sa., 01. November 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Verdi: La traviata
Andromahi Raptis (Violetta), Sara Šetar (Flora Bervoix), Laura Hilden (Annina), Sergei Nikolaev (Alfredo Germont), Björn Huestege (Leitung), Ilaria Lanzino (Regie)