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Opern-Kritik: Theater Münster – Die Apokalypse

Hunger und Tod nach Tönen von Bach

(Münster, 22.5.2024) „Die Apokalypse“ ist die Oper, die Johann Sebastian Bach nie geschrieben hat. Mit Ernst und intelligenter Sensibilität zeigen die Ensembles OPERA2DAY und der Nederlandse Bachvereniging beim Gastspiel auf dem Bachfest der Neuen Bachgesellschaft in Münster ihr enormes Können.

vonRoland H. Dippel,

Bei „Bach inspiriert“, dem 98. Bachfest der Neuen Bachgesellschaft in Münster, ist bis 26. Mai die Reihe Bach.Oranje ein wichtiger Programmstrang mit Beiträgen aus den benachbarten Niederlanden. Zu einem Höhepunkt wurde das Gastspiel des freien Ensembles OPERA2DAY mit der Nederlandse Bachvereniging im Theater Münster. „Die Apokalypse“ greift im Sujet der Wiedertäufer-Herrschaft 1534/35 ein drastisches Ereignis der frühen Reformation auf. Mit seiner Darstellung distanzieren sich Musik und Szene von Meyerbeers Grand opéra „Le Prophète“. Nach über 20 Vorstellungen in den Niederlanden gastiert die 2019 entstandene Inszenierung beim Bachfest Leipzig am 11. Juni 2024. In Münster begeisterte sich das Publikum zu Recht an dem Pasticcio mit intelligent und sensibel angeeigneten Kompositionen von Thomaskantor Bach.

Szenenbild aus „Die Apokalypse“
Szenenbild aus „Die Apokalypse“

Verzahnte Entstehung von Musik, Szene und Stück

Münster zur Zeit der Wiedertäufer steht auf der Drehbühne von Herbert Janse für die Welt. Uri Rapaports Licht und Mirjam Paters Kostüme sind bewusst einfach. Wächter-Uniformen von heute signalisieren Zeitlosigkeit und Relevanz. „Die Apokalypse“ spielt auf einer Scheibe vor der geteilten Lambertikirche. Im Turm des originalen Gebäudes hängen noch heute die drei Wiedertäufer-Käfige (oder ihre Kopien – da sind die Meinungen geteilt). Nach ihrer qualvollen Hinrichtung am 6. Januar 1536 wurden die toten Körper der drei Gefangenen und Hauptangeklagten Bernd Krechting, Bernd Knipperdolling und Jan van Leiden in diesen Eisenkörben an der Südseite des Turms von St. Lamberti hochgezogen und an Haken gehängt. Die Belagerung der westfälischen Stadt und die Ausschweifungen unter dem „Schauspielerkönig“ Jan van Leiden wurden mit der Musik Bachs zu einem faszinierenden Theaterabend.

Szenenbild aus „Die Apokalypse“
Szenenbild aus „Die Apokalypse“

„Prima la musica, dopo le parole“!

Serge van Veggel entwickelte das Szenarium und die Regie in enger Zusammenarbeit mit dem Barockspezialisten Panos Iliopoulos und dem Textdichter Thomas Höft. „Prima la musica, dopo le parole“! Erst nach Auswahl der Musik – zum Teil mit analogen Handlungssituationen aus den Passionen – setzte Höft den Text unter das Arrangement, veränderte und verdichtete mit behutsamer Deutlichkeit. Trotz einer offensiven Dramaturgie, durch welche „Die Apokalypse“ das parabelhafte Exempel für die Mechanismen von Radikalismus werden sollte, dominiert die Musik. Deren Gestaltung und Arrangement war schlichtweg großartig. Serge van Veggels Konfrontationen erinnerten wie in den Szenen der verzweifelt Hungernden an niederländische Genremalerei. Zwischen den Solopartien kam es gerade durch artifizielle Hölzernheit zu explosiver Kraft. Die Gräuel von Völlerei und Vielweiberei wirkten deshalb so stark, weil sie mit dialogischer Schärfe erwähnt, aber letztlich der Phantasie des Publikums überlassen blieben.

Der Leipziger Tenor Florian Sievers ist ein stimmlich geschmeidiger und attraktiver Jan. Seine Brutalität erscheint fast naiv und keineswegs zielgesteuert. Nicht einmal in den Bedrängnissen des 16-fachen Ehemanns von vermeintlichen Gottesgnaden durch die gegnerische Belagerung wirkt er forciert. Erst in der Beichte vor Jans Hinrichtung schält Sievers so etwas wie einen charakterlichen Kern aus dem zum Sektenführer aufsteigenden Gastwirt.

Szenenbild aus „Die Apokalypse“
Szenenbild aus „Die Apokalypse“

Mindestens ein Besetzungscoup

Eigentlicher Opponent zu Jan ist der seine Haut mit einem Bericht an die katholischen Gegner rettende Heinrich Gresbeck. Der deutschstämmige Schauspieler Jobst Schnibbe gewinnt neben eigener Power auch durch die melodramatische Unterlegung an Format. Es gibt bei den Arrangements der Melodramen nach Bach keinen einzigen schwachen Takt. Hernán Schvartzman erweist sich als sehr stimmen- und szenenfreundlicher Dirigent ohne Effektsucht. Unter den Frauenfiguren ragen die Sängerinnen Georgia Burashko und Michaela Riener heraus. Als Besetzungscoup erwies sich der Countertenor James Hall als katholischer Bischof Franz von Waldeck. Während sich Jan in „normalen“ Tenor-Arealen bewegt, steigert sich der Bischof in drastische Vokalläufe und exaltierte Deklamation.

Szenenbild aus „Die Apokalypse“
Szenenbild aus „Die Apokalypse“

Niederländischer Bachstil

Diese charakterisierenden Mittel führten immer wieder zurück in die imponierende, auch selbstbewusste Klangkultur der Nederlandse Bachvereinigung. Diese bestätigt eindrucksvoll ihren Ruf und den hohen Anspruch eines Ensembles, das sich vor hundert Jahren in Opposition gegen die damalige Aufführungspraxis gründete. Zwischen den Sprechchören „Wir sind das Volk“ bzw. „Wir sind die Wut“ und dem die Zwei-Stunden-Oper einrahmenden „Cum sancto spiritu“ aus der h-moll-Messe vollzieht sich ein kleines Wunder.

Szenenbild aus „Die Apokalypse“
Szenenbild aus „Die Apokalypse“

Transparent, trocken, mit sensationeller Akkuratesse und differenzierender Herbheit

In der deutsch gesungenen „Apokalypse“ musiziert man transparent, trocken, mit sensationeller Akkuratesse und differenzierender Herbheit. Theorbe und Barockoboe kommen ohne Originalklang-Exhibitionismus dazu, Verfremdungen und Aneignungen mischen sich kaum merkbar in die Bachschen Originalsätze. Panos Iliopoulos kultiviert nicht das profilneurotische, sondern das kaum merkbar einsetzende Arrangement. Fast unmerkbar kommen Reibungen und Schärfungen dazu, machen aus Bach echtes Musiktheater mit dramatischem Aufruhr und Feuer. Vergleichbares muss sich vor fast hundert Jahren Paul Hindemith als ideale Synthese aus modernen Satztechniken und archaisierenden Zitaten vorgestellt haben. Das Chorensemble zeigt van Veggel als opportunistische Masse mit Ausschweifungs- und am Ende Blutdurst. Dieses und die Solisten verkörpert ein Ideal von Textverständlichkeit. Die leichte Akzentuierung der Konsonanten, eine pikante Eigenart des niederländischen Akzents, wirkt bestens auf die musikalische Phrasierung ein.

Szenenbild aus „Die Apokalypse“
Szenenbild aus „Die Apokalypse“

„Die Oper, die Bach nie geschrieben hat“

Aufführungen weltlicher Bach-Kantaten zum Beispiel durch die Lautten Compagney Berlin oder die regelmäßigen szenischen Produktionen von Bachs Passionen zeigen immer wieder die empfundene Opern-Lücke im Schaffen Bachs. Natürlich ist eine Veroperung von musikalischem Material Bachs legitim, wenn sie mit solchem Ernst und intelligenter Sensibilität geschieht wie in „Die Apokalypse“. Der Übergriff in das brutale Wiedertäufer-Thema funktioniert hier vor allem, weil Szene und Musik mit intensiv überlegter Sensibilität und wohldosierter Respektlosigkeit über bieder-belanglose Stil-Nachahmungen hinauswachsen. Dabei stehen, wenn man Analogien zum 18. Jahrhundert suchen sollte, die Macher der „Apokalypse“ weniger in Nähe italienischer Opernmodelle als an den wilden wie sinnfälligen Erzeugnissen der Hamburger Gänsemarkt-Oper. „Die Apokalypse“ beeindruckt also nicht durch schöne stehende Momente, sondern als planvoller großer Wurf.

Bachfest Münster / Theater Münster
J.S. Bach: Die Apokalypse. Die Oper, die Bach nie geschrieben hat

Hernán Schvartzman (Leitung), Shunske Sato (Idee, musikalische Beratung), Serge van Veggel (Regie & Drehbuch), Thomas Höft (Libretto), Herbert Janse (Bühnenbild), Uri Rapaport (Licht), Mirjam Pater (Kostüme), Florian Sievers, Wolf Matthias Friedrich, James Hall, Georgia Burashko, Mattijs van de Woerd, Kaspar Kröner, Wiebe-Pier Cnossen, Michaela Riener, Jobst Schnibbe, Lauren Armishaw, Emilie Wijers, Mike Wijdenbosch, Freek van Zonsbeck, Boris van Bochoven, Janusz Pawlak, Zweitze Zwart

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