Opern-Kritik: Semperoper Dresden – La Cenerentola

Kleine Geschenke mit Hintersinn

(6.11.2021) Damiano Michieltetto erzählt Rossinis Aschenputtel-Märchen geschickt als Geschichte der Gegenwart, nach den dunklen Abgründen in der Komödie sucht er nicht. Mezzo-Jungstar Emily D’Angelo gibt eine modern selbstbewusste Titelfigur.

© Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Emily D’Angelo (Angelina/Cenerentola), Andrei Zhilikhovsky (Dandini)

Emily D’Angelo (Angelina/Cenerentola), Andrei Zhilikhovsky (Dandini)

Schon während der Ouvertüre fällt ein seriöser Herr mit Hut und Koffer aus allen Wolken. Für einen Moment könnte man denken, dass dies der Komponist selbst sein soll. Aber wer da als Schattenriss zur Erde schwebt und auf der Bühne als eleganter alter (in mehrfacher Hinsicht) weißer Mann in der schon etwas heruntergekommenen Kantine landet, die Paolo Fantin auf die Bühne gebaut hat, ist Alidoro. Dieser Prinzenlehrer, den Pietro Spanoli mit Noblesse spielt und singt, avanciert bei Regisseur Damiano Michieletto wenn schon nicht zu des Komponisten Alter Ego, so doch zum dauerpräsenten Spielmacher. Auf der Bühne ist er allgegenwärtig. Immer zu sehen ist er aber nur für uns Zuschauer. Dem Personal auf der Bühne bleibt er unsichtbar oder erscheint als Bettler oder als Bote.

Cenerentola putzt mit selbstbewusster Anmut

Wenn der angekündigte Prinz in Don Magnificos Kantine auftaucht, dann wird sein Diener Dandini, der ihn spielt, wie ein Star von lauter Frauen fortgeschrittenen Alters (und Selbstbewusstseins) verfolgt und belagert. Hier haben die Herren des (von Jonathan Becker einstudierten) Chores als Damen einen Auftritt, dessen komödiantisches Potenzial sie offensichtlich genießen! Aber da war schon passiert, was am Ende – ganz märchenhaft – zusammenführt, was zusammengehört: der in Jeans und Basecap als sein eigener Diener Dandini inkognito auftretende Prinz und die mit auffällig selbstbewusster Anmut putzende Cenerentola haben sich auf den ersten Blick ineinander verliebt.

© Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Emily D’Angelo (Angelina/Cenerentola)

Emily D’Angelo (Angelina/Cenerentola)

Als Aschenputtel trotz aller Bitten nicht mit zum Ball darf, ist es natürlich Alidoro, der sie (mit Hilfe der Versenkung) in die schöne Fremde für den starken Auftritt verwandelt. Sie nickt am Kantinentisch ein und wacht mit elegantem roten Kleid in einem schicken Loft mit moderner Kunst an der Wand und einem kalten Büfett für die Partie wieder auf. Dort versuchen ihre Stiefschwestern Clorinda und Tisbe gerade mit einer eher plump handgreiflichen Anmache den, den sie für Prinz Charming halten, zu verführen. In seinem blauen Anzug geniest Dandini dieses Rollenspiel in vollen Zügen, schon, weil er bei der Gelegenheit seinem Chef vorführen kann, wie der so nach außen wirkt.

Der allgegenwärtige Alidoro

Cenerentolas Auftritt ist natürlich der Clou auf der Partie. Die Herren sind durch die Bank bei ihrem Anblick im wahrsten Sinne des Wortes von Amors Pfeil getroffen. Diese Liebesmunition dirigiert natürlich auch Alidoro. Das ist für ihn ebenso wenig ein Problem, wie den Unfall zu inszenieren, bei dem die Limousine des Prinzen bei der Suche nach seiner Liebsten punktgenau mitten in die Kantine kracht. Bei dem Gewitter, das Rossini dafür komponiert hat, steuert Alidoro eigenhändig die Donnerschläge bei. Wenn die Wände durch Videoüberblendungen zu verschwimmen beginnen, wirft er dazu immer wieder Stühle zu Boden.

© Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Alice Rossi (Clorinda), Anna Kudriashova-Stepanets (Tisbe), Maurizio Muraro (Don Magnifico)

Alice Rossi (Clorinda), Anna Kudriashova-Stepanets (Tisbe), Maurizio Muraro (Don Magnifico)

Ein vor Ehrgeiz und Eitelkeit triefenden Stiefvater

Don Magnifico, dem vor Ehrgeiz und Eitelkeit triefenden Stiefvater, verpasst Alidoro bei seiner Traum-Arie eine Eselsmaske. Als der sich später als Schwiegervater des Prinzen sieht, staffiert er ihn mit einem Königs-Hermelin, Zepter und Krone aus und bringt seinen Ehrgeiz damit auf den Punkt. Maurizio Muraru verpasst dem alten Fiesling soviel stoische Dummheit, dass er einfach nicht wahrhaben will, wer das Rennen um die Hand des Prinzen gemacht hat. Wenn der Prinz ihn und seine dummdreisten Töchter, die gleich zu Beginn dem Alten die Kasse ausgeräumt haben und es Ceneretola in die (Hand)Schuhe schieben, als Pack bezeichnet, dann kommt man nicht umhin, zumindest zu denken: Recht hat er.

Gelbe Gummihandschuhe für alle

Michieletto erzählt das Märchen als Geschichte von heute. Was tatsächlich auch – quasi jugendfrei – funktioniert, wo doch royale Hochzeiten und selbst die dümmsten Bachelor- oder Bachelorette-Shows TV-Quote machen. Nach den dunklen Abgründen in der Komödie oder dem modernen Sozialdrama sucht der Regisseur dieser Koproduktion mit dem Pariser Théâtre des Champs-Èlysées nicht. Er bleibt bei der Komödie. In einem Punkt aber weicht Michieletto (wohltuend) vom märchenhaften Und-wenn-sie-nicht-gestorben-sind-Schluss ab.

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Maurizio Muraro (Don Magnifico), Pietro Spagnoli (Alidoro)

Maurizio Muraro (Don Magnifico), Pietro Spagnoli (Alidoro)

Als die Brautwahl (also die Machtfrage) entschieden ist, Angelina verkündet, dass ihre Rache Vergebung sein soll, und man als Zuschauer Mühe hat, soviel Großmut auszuhalten, da öffnen die versammelten Herren und Angelinas Verwandtschaft die kleinen Geschenkkartons, die sie gerade mit aristokratischer Geste verteilt hat. Das Geschenk für jeden sind ein Paar der gelben Gummihandschuhe, mit denen sie in ihrem bisherigen Leben ausgestattet war. Und weil vom Schürboden für jeden ein Eimer einschwebt, gehen sie allesamt auf die Knie und fangen an zu schrubben. Aber wie das so ist: Gerade als das Brautpaar und Dandini außer Sichtweite sind, hören sie damit auf und werfen Handschuhe und Schürzen wütend von sich. So einfach ist es mit der Umerziehung zum guten Menschen offensichtlich doch nicht.

Rossinis musikalischer Prosecco perlt (fast) perfekt.

Und auch nicht damit, Rossinis musikalischen Unterhaltungs-Prosecco so perlen zu lassen, dass er noch im letzten Winkel des auf Coronalücke besetzten Hauses zu einem Überwältigungs-Schwips führt. Natürlich haben Alessandro De Marchi und die Musiker der Sächsischen Staatskapelle bei ihrer Exkursion ins pure Opernvergnügen die Steigerungen drauf, wenn sich die Musik in den Raum wälzt, um die Interpreten beim zungenbrecherischen Parlando auf Trab und nicht aus dem Takt zu bringen. Sie haben natürlich kein Problem, auf Touren zu kommen und (fast immer) auch mit den Herren des Staatsopernchores gleichauf zu liegen. Aber De Marchi setzt bewusst auf die Ensembleleistung und hält die Zügel auch da angezogen, wo man sich manchmal wünschen würde, dass ihm die Pferde durchgehen.

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Maxim Mironov (Don Ramiro), Alice Rossi (Clorinda), Anna Kudriashova-Stepanets (Tisbe)

Maxim Mironov (Don Ramiro), Alice Rossi (Clorinda), Anna Kudriashova-Stepanets (Tisbe)

Bei den Protagonisten liefert Maxim Mirnov den Märchenprinzen mit jungenhaftem Charme und angenehm timbriertem Rossinitenor. Emily D’Angelo lässt mit ihrem zu dramatischer Zuspitzung fähigem Mezzo von Anfang an vor allem die künftige Prinzessin durchscheinen. Sie hat die kalt servierte Rache des Finales auch schon bei der Küchenarbeit nicht nur in der Haltung, sondern auch in der Stimme. Andrei Zhilikohovsky hat weder vokal noch mit seiner stattlichen Erscheinung ein Problem, als Diener seinen Herrn (bzw. als Untergebener seinen Chef) zu spielen. Alice Rossi und Anna Kudriashova-Stepantes sind ihres Vaters (glaub-)würdige Töchter! Das Premierenpublikum war hörbar zufrieden. Einen Grund zum Aufregen hatte es auch nicht.

Semperoper Dresden
Rossini: La Cenerentola

Alessandro De Marchi (Leitung), Damiano Michieletto (Inszenierung), Eleonora Gravagnola (Mitarbeit Regie), Paolo Fantin (Bühnenbild), Agostino Cavalca (Kostüme), Chiara Amaltea Ciarelli (Mitarbeit Kostüm), Alessandro Carletti (Licht), rocafilm (Videodesign), Jonathan Becker (Chor), Chiara Vecchi (Choreografie), Juliane Schunke (Dramaturgie), Emily D’Angelo, Maxim Mironov, Maurizio Muraro, Andrei Zhilikhovsky, Pietro Spagnoli, Alice Rossi, Anna Kudriashova-Stepanets

Termine

Freitag, 29.03.2024 18:00 Uhr Deutsche Oper Berlin

J. S. Bach: Matthäus-Passion

Kieran Carrel (Evangelist), Padraic Rowan (Jesus), Siobhan Stagg (Sopran), Annika Schlicht (Alt), Kangyoon Shine Lee (Tenor), Joel Allison (Bass), Alessandro De Marchi (Leitung), Benedikt von Peter (Regie)

Sonntag, 31.03.2024 16:00 Uhr Deutsche Oper Berlin

J. S. Bach: Matthäus-Passion

Kieran Carrel (Evangelist), Padraic Rowan (Jesus), Siobhan Stagg (Sopran), Annika Schlicht (Alt), Kangyoon Shine Lee (Tenor), Joel Allison (Bass), Alessandro De Marchi (Leitung), Benedikt von Peter (Regie)

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