Bachs h-Moll-Messe ist für die Arbeit vieler Ensembles ein Schlüsselwerk – für den Balthasar-Neumann-Chor und das gleichnamige Instrumentalensemble sind die Interpretationen dieser Messe im Laufe von zwei Jahrzehnten sogar zum Markenzeichen geworden. 1996 studierte man das Werk erstmals für eine vielbeachtete szenische Produktion der Schwetzinger Festspiele ein. Die solistischen Partien wurden aus dem Chor besetzt – was bis heute ein Grundprinzip geblieben ist –, das Ensemble selbst glänzte durch Transparenz und sprechende Phrasierungen. „Wie da noch Worte finden angesichts solcher Kunst?“, schwärmte damals die Neue Zürcher Zeitung. Seither wird das Werk immer wieder aufs Programm gesetzt. „Wir sind als Musiker nicht nur einfach fasziniert von Bachs h-Moll-Messe; sie ist vielmehr zu einem Teil von uns geworden“, beschreibt der Dirigent Thomas Hengelbrock die innige Verbindung. „Die Musik umkreist Themen, mit denen wir täglich leben: unsere Einsamkeit, Verzweiflung, Freude und Glückseligkeit.“
Als der Dirigent im Jahr 1991 den Solistenchor gründete, wählte er mit Balthasar Neumann bewusst einen Nichtmusiker als Namensgeber. Der Zeitgenosse Bachs hatte in seinen Bauten eine Balance von Architektur, Malerei und Skulptur gesucht – und auch die Sängerinnen und Sänger des Chores sollten verschiedene Bereiche in Einklang bringen: Musik und Literatur, Konzert- und Opernbühne. Sie sollten Solisten sein, aber auch einen homogenen Chorklang erzielen können. Bei den ersten Projekten ließ Hengelbrock den Chor noch vom Freiburger Barockorchester begleiten, denn eigentlich wollte er mit diesem ebenfalls von ihm mitbegründeten Ensemble das Repertoire in Richtung 19. Jahrhundert erweitern und vor allem Opernproduktionen angehen. Doch die Kollegen zeigten wenig Interesse, und als 1995 von René Jacobs die Anfrage zu Scarlattis Oper Il Mitridate Eupatore bei den Innsbrucker Festwochen kam, stellte Hengelbrock kurzerhand sein eigenes Ensemble zusammen: die Geburtsstunde des Balthasar-Neumann-Ensembles.
Und einer einzigartigen Erfolgsgeschichte: Haben die Ensembles doch nicht nur Bach und Monteverdi in historischer Aufführungspraxis zum Blühen gebracht, sondern auch Bellini, Wagner und Verdi.
Obwohl die freien, kaum subventionierten Ensembles auch einzeln spannende Projekte realisieren, liegt das Besondere gerade im Zusammenwirken der beiden, in der „Verschmelzung der instrumentalen und vokalen Sphäre“, wie Hengelbrock erklärt. „Im Chor erreichen wir dies, indem wir sämtliche Soli aus den eigenen Reihen besetzen und jeder Solist auch wieder zurück in die Gruppe tritt, um im transparenten Gesamtklang aufzugehen. Einzigartig am Orchester ist, dass es mit seinen Instrumenten im Chor mitsingt.“
Tiefgehende Vorbereitung: Keine Interpretation wird dem Zufall überlassen
Dabei überlegt sich Hengelbrock sehr genau, was auf welche Weise gesungen und gespielt werden soll. Sein Büro ist schon Jahre vor einer Produktion im Einsatz. Hier stapeln sich in den Fächern einer gewaltigen Regalwand Notenausgaben, Autographe, Bücher und CD-Aufnahmen: Die Quellen jener Dramaturgiemappen, die hier zu jedem Projekt zusammengestellt werden und die wiederum die theoretische Grundlage für Hengelbrocks Interpretationen bilden. „Er möchte einfach aus dem Vollen schöpfen können“, sagt Dramaturg Johannes Bosch. Aus dem Vollen schöpfen: Das könnte auch das Motto sein für das Selbstverständnis der beiden Ensembles – und für ihre Interpretation von Bachs h-Moll-Messe.