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Porträt Chilly Gonzales

Professor im Morgenmantel

Chilly Gonzales besticht auf der Bühne als humorvoller Entertainer – und sinniert in seinen Klavierwerken über das Ende der Romantik.

vonJakob Buhre,

Dass klassische Musiker vom Publikum auf Händen getragen werden, gibt es eigentlich nur im sprichwörtlichen Sinn. Es sei denn, die Rede ist von Chilly Gonzales. Der kanadische Klavier-Künstler hat schon mehrfach das unter Rockmusikern beliebte „Crowdsurfing“ in Konzerthäusern praktiziert. So ließ er sich liegend und singend von seinen Zuhörern quer durch das Parkett der Kölner Philharmonie tragen, während das Orchester von der Bühne aus seinen Gesang begleitete. Es hat sich längst rumgesprochen, dass Konzerte von Gonzales äußerst unterhaltsam sind. Mal ist er aufbrausender Liedermacher, mal in sich gekehrter Pianist, mal zelebriert er die eigene Musik, mal verfremdet er sie spontan im elektronischen Live-Remix. Und das Ganze meist im Morgenmantel und Pantoffeln.

Gonzales’ Entertainer-Qualitäten sind die Summe seiner bisherigen Karriere. Die begann im kanadischen Montreal, wo er ab dem zehnten Lebensjahr erst klassischen Klavierunterricht erhielt und später ins Jazz-Fach wechselte. Er studierte Komposition, gründete eine Alternative-Rock-Band. Doch nach zwei Alben entschloss sich Jason Charles Beck, so sein bürgerlicher Name, seine Zelte in Berlin aufzuschlagen. Hier jobbte er als Barpianist unter anderem im Hotel Adlon und gab Club-Konzerte mit einer Mischung aus Techno, exaltiertem Rap und Keyboard Einlagen. Und dann setzte sich Gonzales wieder ans Klavier, nahm 2004 in den Pariser Ferber Studios 16 Stücke auf, die er unter dem schlichten Titel „Solo Piano“ veröffentlichte. 16 Miniaturen, in denen man Debussys Poesie und Saties Melancholie hören kann, aber auch Minimalismus-Einflüsse und ein Echo der Romantik Schuberts.

Chilly Gonzales
Chilly Gonzales © Alexandre Isard

Eine Klavierschule für die Gescheiterten

„Ich versuche nachzuvollziehen, was aus der romantischen Musik geworden wäre“, erklärt Gonzales im Gespräch. „Was wäre mit tonaler Harmonie geschehen, wenn der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen wäre? Wenn sich nicht plötzlich die Musik der akademischen Welt in eine Richtung bewegt hätte, weg vom musikalischen Vergnügen.“ Die Epoche der Impressionisten fasziniert ihn auch aufgrund der Nähe zwischen Klassik und Jazz: „Manchmal hört man ein Stück von Ravel und denkt, es sei von Art Tatum. Oder man meint gerade einen Jazz-Pianisten zu hören, doch in Wahrheit ist es César Franck.“

„Solo Piano“ wurde schließlich zum Verkaufshit, und für Gonzales begann ein neuer Karriere-Abschnitt. Philharmonie-Konzerte waren plötzlich ausverkauft, mal gönnte er sich dazu ein Streichquartett, mal ein ganzes Orchester. Inzwischen sind von „Solo Piano“ Teil 2 und 3 erschienen, zudem gab Gonzales mit „Re-Introduction Etudes“ eine Art Klavierschule für all jene heraus, die schon mal am Instrument gescheitert sind.

Chilly Gonzales predigt für den Live-Moment

Das Interesse der Menschen an Musik zu wecken und aufrecht zu erhalten, scheint wesentliches Ziel seiner Arbeit zu sein. Im Konzert sucht Gonzales den Kontakt mit dem Publikum, er erklärt, scherzt und schwitzt. Auch jenseits der Bühne ist er zum sympathischen Musik-Professor avanciert. Für den WDR nimmt er in seinen „Pop Music Masterclasses“ witzig und wortgewandt Pop-Hits unter die Lupe. Und er lädt Musikstudenten ins „Gonzervatory“ ein. In diesen Workshops will er die Nachwuchsmusiker vor allem fit für die Bühne machen. „In 100 Jahren wird es lächerlich wirken, dass es mal eine Industrie für aufgenommene Musik gab. Es geht nur um die Aufführung, den Live-Moment. Meine Schüler sind alle in ihren Zwanzigern, die bauen sich jetzt ihr Publikum auf. Und ihre Fans bekommen sie, wenn sie es geschehen lassen, wenn sie sich auf der Bühne wirklich öffnen.“

Sehen Sie hier Chilly Gonzales‘ „Present Tense“ aus „Solo Piano 3“:

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Album Cover für
Gonzales: Piano Solo III
Chilly Gonzales (Klavier)
Gentle Threat

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