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Blind gehört Chilly Gonzales

„Ich höre da pure Freude“

Chilly Gonzales hört und kommentiert CDs von seinen Kollegen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonSusanne Bánhidai,

Als für kurze Zeit im Herbst Konzerte möglich waren, trafen wir Chilly Gonzales nach einem Auftritt in der Elbphilharmonie. Der Jazz-Musiker zeigte zusätzlich zu seinen Entertainer-Qualitäten eine überraschende Kenntnis der klassischen Musik. Vor dem Interview freute er sich sehr auf das Rätselraten– und anschließend darüber, dass er einen deutschen Wortwitz platzieren konnte.

Album Cover für The falcon will fly again

The falcon will fly again

Brad Mehldau Trio
Nonesuch 2010

Tja, wie wahrscheinlich viele Menschen habe ich Assoziationen mit bestimmten Instrumenten. Da schwingt dann beim Hören eine zusätzliche Bedeutung mit, was dem Instrument gegenüber sicher nicht ganz fair ist. Interessanterweise habe ich eine passende Geschichte dazu in meinem Buch beschrieben. Bei einem Jazz-Konzert saß jemand in der Runde, der das Vibrafon stark mit Lounge-Musik assoziierte. Er konnte nicht über diese Verbindung hinaus hören und hasste das Stück. So ist das bei mir mit dem Sopransaxofon. Es ist das Instrument von Kenny Jackson und irgendwie kitschig. Ich höre hier zwar anspruchsvollen Jazz mit einem komplizierten Rhythmus, aber dann kommt das Sopransaxofon – und bin ich raus. Ich bin nicht stolz darauf, kann es aber auch nicht ändern. Von wem ist das überhaupt? – Ah, Brad Mehldau. Das ist guter Jazz, mir persönlich ist er ein bisschen zu verfrickelt.

Album Cover für Ravel: Klavierkonzert G-Dur – 3. Presto

Ravel: Klavierkonzert G-Dur – 3. Presto

Steven Osborne, BBC Scottish Symphony Orchestra, Ludovic Morlot (Leitung)
Hyperion 2016

Ist es von Prokofjew? Nein? Wirklich nicht? Einen Moment. (hört weiter) Dann ist es das Klavierkonzert in G-Dur von Maurice Ravel, der dritte Satz daraus. Wow, das ist richtig schnell! Ich bin mit der Aufnahme von Pascal Rogé groß geworden und war erst irritiert. Das Stück kann man jemandem vorspielen, der nicht viel Klassik hört, um Lust darauf zumachen. Als ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt war, hatte ich nicht viel übrig für Mozart oder Beethoven, allderdings für Prokofjew und Ravel. Wenn man Mozart hört, hat man doch sofort Menschen mit Perücken vor Augen. Bei Ravel hört man die Stadt, den Jazz, Modernität. Ich würde es auf eine „TopTen“-Liste mit den besten Stücken für Klassik-Einsteiger setzen!

Scrubble di Bubble

Helge Schneider
We Love Music 2013

Wenn ich Musikern zuhöre, die Spaß haben, habe ich nichts zu meckern! Ich höre da pure Freude. Scatting klingt ja immer ein bisschen albern, aber auf eine witzige Art. – Ah, das ist Helge Schneider! Dann passt das ja. Wir sind mal zusammen aufgetreten. Er ist ein talentierter, spielfreudiger Musiker und weiß genau, dass man sich beim Scatten ein bisschen verrückt anhört. Da muss ich mitschmunzeln!

Sugar Rum Cherry

Duke Ellington and His Orchestra
Hallmark 1960

Das ist Duke Ellington mit seiner „Nussknacker-Suite“, arrangiert von Billy Strayhorn. Für mich ist Duke Ellington ein absolutes Vorbild. Nicht nur als Pianist, Komponist, Arrangeur und Geschäftsmann, sondern vor allem wegen seiner Publikumsnähe. Für ihn war es sehr wichtig, eine Beziehung zu den Menschen aufzubauen, für die er spielt. Er wusste seine Musik gut in Szene zu setzen und hatte eine tolle Stimme, mit der er seine Auftritte moderierte.V iele Jazz-Musiker spielen für sich oder für andere Musiker und denken nicht viel über das Publikum nach. Oder sie meinen, das Publikum müsse die ganze Arbeit machen. Duke Ellingtons Musik war anspruchsvoll, und deswegen ging er einen Schritt auf sein Publikum zu. Ähnlich wie Leonard Bernstein wurde er zum Anwalt für die Musik an sich. Da sehe ich eine Parallele zu mir selbst. Meine Musik soll raffiniert und komplex sein. Mit meiner Persönlichkeit kann ich mich dem Publikum zuwenden.

Album Cover für J. S. Bach: Brandenburgisches Konzert  Nr. 1 – 1. Allegro

J. S. Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 1 – 1. Allegro

Jacques Loussier Trio
Telarc 2006

Das ist Jacques Loussier mit „Play Bach“, richtig? Ich würdige das Engagement, aber das ist nicht mein Geschmack. Hier ist die Klassik, da der Jazz, und jetzt mischen wir das Ganze. Das ist so, als ob dir jemand bei einem Gericht völlig verschiedene Zutaten vorsetzt, die keine Verbindung eingegangen sind. Man nehme Schokolade und Steak und lege die Schokolade direkt auf das Steak. Es passt so nicht zusammen. Ich schätze es mehr, wenn beide Stile stärker miteinander verschmelzen. Für mich hat Víkingur Ólafsson Bach in unsere Ära geholt, und zwar mit der Art, wie er rhythmische Akzente setzt. „Play Bach“ ist mir zu oberflächlich. Es gibt andere Wege um zu zeigen, dass Bach ein universeller Komponist ist, der groovt.

Album Cover für J. S. Bach: Das wohltemperierte Klavier Buch II – Präludium & Fuge fis-Moll BWV 883

J. S. Bach: Das wohltemperierte Klavier Buch II – Präludium & Fuge fis-Moll BWV 883

Keith Jarrett
ECM 1991

Wer spielt? Keith Jarrett? Ja, es ist schön. Ich kenne Keith Jarrett nur mit seinen Improvisationen auf dem Clavichord. Jarrett erkundet das Instrument und nutzt die Extreme. Das Cembalo hat das Zeug, eine Renaissance zu erfahren. Es ist ein brutales Instrument, daher passt es gut in unsere harten Zeiten. Ich habe auch eins zu Hause und habe es auf meinem Weihnachts-Album erklingen lassen.

Album Cover für Debussy: Préludes 2ième Livre – XII. Feux d'artifice

Debussy: Préludes 2ième Livre – XII. Feux d’artifice

Friedrich Gulda
MPS 1969

Ich war mal auf einem Konzert einer Punk-Band mit dem tollen Namen „The Golden Showers“, als ich in Berlin lebte. Gleich beim ersten Song flippte ein Typ völlig aus und zeigte der Menge sein bestes Stück. Und ich dachte nur: Was soll jetzt noch kommen? Er versteht nicht, wie man eine Geschichte erzählt. Es war zu viel am Anfang. Bei diesem Stück geht es mir genauso. Zu viele Informationen auf einmal, so komme ich nicht rein. Oh, Claude Debussy, hätte ich nicht gedacht.

Scrjabin: Deux Morceaux op. 57/1 – Désier

Glenn Gould
Sony Classical 1970

Ich liebe das. Ist es Skrjabin? Das habe ich sofort gehört, obwohl ich das Stück selbst nicht kenne. Es klingt ein bisschen wie Jazz, aber so, als ob Frédéric Chopin Jazz spielen würde. Wer spielt? – Glenn Gould. Das packt einen, oder? Die erste Phrase lässt dich nach vorne auf die Stuhlkante rücken und du bist sofort in der Geschichte drin. Tolle Aufnahme.

Album Cover für Passagio

Passagio

Ludovico Einaudi
Ponderosa 2004

Ja, das gefällt mir. Es hat einen volksliedhaften Charakter. Was automatisch bedeutet, dass es harmonisch und melodisch ein bisschen simpler ist. Das Gute daran: Das Ego des Komponisten ist nicht so präsent, weil so eine Musik aus der Sphäre des gemeinsamen Musizierens geboren wurde. Ein guter Musiker war hier am Werk, der etwas von Dramaturgie versteht. Bevor es langweilig wird, verändert sich der Song. Die Intelligenz ist ein bisschen versteckter. Wer ist es? Ludovico Einaudi, der hat früher Avantgarde und Fusion-Jazz komponiert, bevor er der Gründer dieser Art von Klaviermusik wurde. Wenn junge Leute ihn schlecht nachahmen, sage ich denen immer auf Deutsch: „Du bist nicht Ludovico Einaudi, du bist Ludovico Zweinaudi!“

Album Cover für Sleeping Lotus

Sleeping Lotus

Joep Beving
Deutsche Grammophon 2017

Das ist so eingängig wie ein Pop-Song. Ich habe das Stück schon mal gehört. Die Melodie ist stark genug, so dass ich sie behalten habe. Eingängige Songs zu schreiben ist sehr schwer! Respekt. Dieses Stück war sein Hit.

Album Cover für Gentle Threat

Gentle Threat

Chilly Gonzales
Gentle Threat 2004

Warte mal, das bin doch ich! Es gibt eine witzige Geschichte zu diesem Stück: Als ich 2009 mein eigenes Label gründete, lebte ich in Frankreich, wo es sehr strenge Regeln gibt, wie du dein Unternehmen nennen darfst. Alles, woran ich gedacht hatte, war nicht erlaubt. Ich hatte viele Wortspiele mit „Gonz“ im Kopf. „Gonzpiration“ und so weiter. Ich war schon ganz frustriert, nachdem ich fünfzehn Namen vorgeschlagen hatte. Dann sind wir einfach die Titel des Albums „Solo Piano“ durchgegangen und haben den ersten genommen, der akzeptiert wurde. „Gentle Threat“ war erlaubt, mein Label heißt jetzt so, obwohl es die Franzosen nicht aussprechen können. Das Stück habe ich vor über zehn Jahren komponiert und ich spiele es immer noch gerne. Ich stehe dazu. Die Melodie ist ja sehr simpel und besteht nur aus zwei Tönen: C und G, die Initialen von Chilly Gonzales. Ein sehr persönlicher Song.

Album-Tipp

Album Cover für Gonzales: Solo Piano III

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Chilly Gonzales Gentle Threat

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