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Porträt Marco Goecke

Tanz in Hochspannung

Marco Goecke erschafft mit einer beeindruckenden Schlagzahl neue Choreografien – und bezeichnet sie doch nur als Nebenprodukt.

vonDagmar Ellen Fischer,

Anders als andere empfand sich Marco Goecke schon früh als Künstler. Bilder von Picasso waren ihm als Kind ein Zufluchtsort, damals wollte er Maler werden. Heute ist er der aufregendste Choreograf Deutschlands. Und seine Tanzsprache ist ebenfalls anders als alles, was es bisher an Choreografien auf den Bühnen dieser Welt zu sehen gab.

Diese innovative künstlerische Qualität wurde im Oktober 2022 mit der Verleihung des Deutschen Tanzpreises gewürdigt. Spät, wenn man bedenkt, dass Goecke in 22 Jahren etwa neunzig Werke für die renommiertesten Ensembles vor allem in Europa kreiert hat, unter ihnen das Ballett der Pariser Oper, das Stuttgarter und das Züricher Ballett sowie das Bayerische Staatsballett. In München schuf er 2022 „Sweet Bones’ Melody“. Obwohl er seit der Spielzeit 2019/20 als Ballettdirektor und Chefchoreograf an der Staatsoper Hannover seine eigene Company leitet, nimmt er Gastaufträge gern an: „Das ist weiterhin Teil meiner Arbeit, darauf verzichten kann und will ich nicht.“

Vielleicht, weil so die ersten zwanzig Jahre seiner Karriere aussahen: Er folgt einer Einladung, choreografiert mit Menschen, die er zuvor nicht kannte und reist wieder ab. „Das ist wie eine Liebesaffäre für ein paar Wochen, und wenn das Stück fertig ist, geht man auseinander.“ Jetzt ist Marco Goecke in Hannover für ein Team von 33 Mitarbeitenden verantwortlich: „Da bin ich täglich mit den Problemen der Menschen konfrontiert. Das kann man mit einer Familie vergleichen, wo jeden Tag irgendwas los ist; manchmal ist das schön, weil es nah am Leben ist, manchmal nervt es. Aber ich habe hier ein Zuhause für meine Arbeit gefunden.“

Mit der Spannung eines Hitchcock-Thrillers

Rund neunzig Choreografien in 22 Jahren ergeben einen Schnitt von vier Werken pro Jahr. Man könnte den Eindruck bekommen, Goecke fürchtet, nicht alles zu schaffen, was er gestalten möchte. „Das hat eher mit Geben und Nehmen zu tun. Ich habe gemerkt, dass die Leute meine Arbeiten haben wollen, das ist ja auch ein Geschenk.“ Er sei kein besonders ehrgeiziger Mensch und Choreograf nicht sein Traumberuf. „Es ist einfach passiert, ich habe nicht verbissen unbedingt Erfolg haben wollen“, so Goecke. „Manchmal, wenn ich müde bin und denke, keine Kraft mehr zu haben, dann merke ich: Das einzig Wichtige und Interessante ist, mit Menschen zusammen zu sein. Ein Stück ist oft ein Nebenprodukt, um Zeit miteinander zu verbringen.“ Das jüngste Nebenprodukt mit dem NDT 1 wurde im Februar 2022 uraufgeführt und heißt „I love you, ghosts“. Ein Rezensent bescheinigte ihm die Spannung eines Hitchcock-Thrillers.

Tanz in Hochspannung, Bewegungen wie Zittern, Zucken, Flattern und Schlagen sowie rasante Tempi werden als typische Kennzeichen für Goeckes Körpersprache genannt. 2000 entstand seine erste Choreografie während seines Engagements als Tänzer am Theater Hagen, ab 2005 war er Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett. Mit seinem Ensemble in Hannover zeigte er zur Eröffnung der aktuellen Spielzeit „A Wilde Story“, inspiriert von Leben und Literatur Oscar Wildes, von Publikum und Presse mit Ovationen bedacht. Goecke wählte Musik von The Smashing Pumpkins, Jules Massenet, Erich Wolfgang Korngold, Dame Ethel Smyth und Debbie Wiseman. „In Deutschland haben wir eine starke Trennung zwischen Unterhaltungs- und ernster Musik. Da bin ich eher bei den Amerikanern, die sagen: Was gut ist, ist gut, und was gut ist, gehört zusammen.“ In früheren Werken führte der Choreograf Beethoven und Miles Davis zusammen, Ligeti mit Ella Fitzgerald. „Menschen, die etwas von Musik verstehen, machen keinen Unterschied zwischen Fitzgerald und Ligeti. Ich bin fest davon überzeugt, dass beides großartig ist. Es ist halt eine andere Welt, in die man hineingeht, wenn plötzlich Jazz-Gesang kommt. Das ist ja Sinn der Sache und in einem Stück oft wichtig: die Welten zu verschieben.“

Als gebürtiger Wuppertaler ist er mit Pina Bauschs Werken aufgewachsen, die auch musikalische Collagen etablierten. „Damit hat Pina eine große Freiheit für Nachfolgende geschaffen,“ konstatiert er. Wenn Goecke Musikstile kombiniert, dann sind das auch Collagen seines Lebens: „Collagen meiner Sprunghaftigkeit. Man muss in meinem Beruf darauf achten, dass man so sprunghaft und spontan wie möglich bleibt.“

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