BLIND GEHÖRT ARTEMIS QUARTETT

„Da lässt jemand Fünfe gerade sein“

Gregor Sigl und Eckart Runge vom Artemis Quartett hören und kommentieren CDs von Kollegen, ohne dass sie erfahren, wer spielt

© Molina Visuals

Sie haben sich nach der griechischen, bogenführenden Göttin der Jagd und des Waldes benannt und sind selbst eines der führenden Streichquartette mit internationaler Karriere und zahlreichen Plattenaufnahmen mit Referenzcharakter. In Lübeck 1989 gegründet, ist das Quartett inzwischen in Berlin ansässig. Dort wagten sich Gründungsmitglied und Cellist Eckart Runge (ER) und der Violinist Gregor Sigl (GS) ans CD-Hören. 

Beethoven: Streichquartett

op. 59 Nr. 3

Julliard String Quartet

1983. CBS Records

ER: Schwierig zu sagen, wer es ist. Alle Streichquartettformationen, die ich so kenne, sind es nicht. Es ist auf jeden Fall live. GS: Man hört den einen oder anderen „Unfall“ im Zusammenspiel, in der Intonation. Es ist auf jeden Fall ein gediegenes Quartett mittleren bis fortgeschrittenen Alters. ER: Die Art des Klangs scheint mir nicht sehr jugendlich. Bei jüngeren Gruppen hört man gerade bei diesem Stück eine elektrisierende Art, sie sitzen dann wirklich auf der Stuhlkante, spielen das Ganze mit mehr Feuer, brennender, glühender. Das hier ist ein bisschen wie ein alter Wein. GS:Ich kann nur tippen. Ich schätze, es ist eine Live-Aufnahme von einem amerikanischen Streichquartett. Ich leite das aus dem Tonfall ab. Es ist ein bisschen ästhetisierend, nicht so unmittelbar. Es fehlen die Kanten, die krachen nicht so rein. Natürlich gibt es amerikanische Quartette, die ganz anders spielen, wenn ich ans Emerson denke, aber auch ans noch jüngere Julliard, die sind so zur Sache gegangen… Ach, es ist das ältere Julliard? Ist das die Aufnahme aus der Library of Congress? Die hab ich noch nie gehört, ich kenne nur die früheren.

Beethoven: Streichquartett

op. 59 Nr. 3

Schuppanzigh-Quartett

1999. Ars musici

ER: Also mein erster Tipp wäre Quartuor Mosaiques, oder irgendeine Gruppe, die aus dieser Richtung mit Originalinstrumenten kommt. GS: Ich sage nicht Mosaiques, weil ich von ihnen ein kontrolliertes Spiel gewohnt bin. Aber auf jeden Fall ist das eine Gruppe, die Originalinstrumente benutzt, man hört zumindest die Darmsaiten, die surren so ein bisschen, und sie benutzen wahrscheinlich klassische Bögen, da werden mittlerweile ganz verschiedene Bogenarten sehr differenziert eingesetzt. Sie spielen auch ohne Vibrato, das erinnert sehr an Barockspezialisten. Ich kenn mich nicht so aus mit diesen Gruppen… Rasumowsky-Quartett, das haben wir neulich gehört… Schuppanzigh-Quartett, aha. ER: Interessant ist auch, was die rhetorisch machen. Für meinen Geschmack ist da vieles ein bisschen weit hergeholt, ein bisschen maniriert, overdone. Ich bin beim Hören manchmal hochgeschreckt und habe gedacht: Interessante Idee. Vielleicht mache ich so etwas mal, wenn ich von dem Stück gelangweilt bin, aber das bin ich nicht so schnell. Sie nehmen sich rhetorisch sehr viele Freiheiten, das kennt man ja auch von der Barockmusik. Beethoven allerdings gibt eine Genauigkeit der Notation schon in den Partituren vor. Ich tue mich schwer mit sowas, hab aber Bewunderung dafür, dass man das einfach so rotzfrech macht.

Burgmüller: Streichquartett op. 9

Mannheimer Streichquartett

2003. MDG

ER: Wir haben eine Vermutung, aber wir sind nicht ganz sicher: Das könnte ein Quartett von Juan de Arriaga sein, gespielt vom Guarneri-Quartett. Nein? Auch kein Boccherini? Aus dem deutschsprachigen Raum? Vielleicht Alois Emanuel Förster? Wer wäre denn da noch… Es ist ein interessanter, merkwürdiger Mix. GS: Ich kann mich auch irren, aber für mich ist das eine Komposition aus der Kategorie „zu Recht nicht oft gespielt“. Ich finde zumindest, es ist kein Geniestreich. ER: Das Schwierige beim Hören ist, dass man die Form des Ganzen erstmal nicht so recht begreift, und doch ist es harmonisch interessant, mit etlichen chromatischen Anwandlungen. GS: Es gibt ja auch Sätze von Mozart, die man beim ersten Hören noch nicht so richtig kapiert, aber so ist das hier dann doch nicht. Leider weiß ich‘s nicht. Norbert Burgmüller? Nie gehört. 1810 geboren, mit 26 Jahren ertrunken… ER: Ein ähnliches Schicksal wie Arriaga zu ähnlicher Zeit, der ist nur 19 geworden. Das hier hat auch etwas Unausgegorenes, aber unglaublich Talentiertes. Wer spielt das? Das Mannheimer Streichquartett? Gut gespielt!

Bach: Giga aus Partita d-Moll

BWV 1004

Gidon Kremer (Violine)

1980. Philips

Bach: Giga aus Partita d-Moll

BWV 1004

Victoria Mullowa (Violine)

1992. Philips

GS: Okay, das ist Gidon. Den erkennt man sofort. Da ist diese Attacke im Bogen, die viele Luft: Er bewegt den Bogen so schnell über die Saite, dass es ein wenig haucht. Auch seine Art von Vibrato, er ist einfach unverkennbar. Diese Aufnahme ist wirklich toll, technisch total überragend, große Spielfreude, sehr direkt alles, sehr klar. Die andere Aufnahme, das ist ein an barocker Aufführungspraxis orientierter Ansatz. Ich vermute aber, dass es kein „echter“ Barockspezialist ist, dafür sind zuviele merkwürdige Dinge drin, in der Bogentechnik, in der Phrasierung. Es scheint ein Geiger zu sein, der mal etwas neues für sich entdecken wollte. Was mich ein bisschen stört an der Aufnahme: Die Intonation ist zwar blitzsauber, aber für mich viel zu einheitlich und gleichbleibend temperiert. Sie passt überhaupt nicht zum Charakter dieser Tonart, sie stellt sich gar nicht aufs Stück ein. ER: Das andere ist Victoria Mullowa? Interessant. Sie hat die Leittöne besonders hoch genommen, gewissermaßen wie ein echter Solist intoniert, sehr hell. GS: Mullowa hat damals damit überrascht, weil niemand erwartete, dass sie sich mal in diese Richtung begibt. Ich interessiere mich selbst sehr für die barocke Spielart, ich wage mich aber genau aus dem Grund nicht daran: Wenn ich mich nicht zu 100 Prozent darauf einlasse und sämtliche Spezifika der Spielweise verinnerliche, wird es mich nicht befriedigen.

Dvořák: Cellokonzert h-Moll op. 104

Gregor Piatigorsky (Violoncello)

Boston Symphony Orchestra

Charles Munch (Leitung)

1960. RCA Victor

GS: Wie das Orchester nach dem Cello-Solo wieder einsetzt – phänomenal. ER: Ich kenne auch diese Aufnahme nicht. Es ist nicht Cassadó? Dann ist es vielleicht Piatigorsky? Ja. Gregor Piatigorsky, ein irrer Typ. Jeder Cellist hat seine Autobiographie „Mein Cello und ich“ im Schrank stehen. Er hat eine unglaubliche Reise gemacht, kam aus Russland, ist durch halb Europa migriert, war sogar vor der NS-Zeit Solo-Cellist der Berliner Philharmoniker, dann floh er im Krieg zunächst nach Frankreich und wurde später in Los Angeles Professor. Bei ihm war das alles verknüpft mit einer gehörigen Portion Abenteuerlust und Draufgängertum. Man merkt in der Aufnahme diese alte russische Schule, die große Freiheit, das höchst espressive Spiel. Er lässt sich viel Zeit, er ist sehr rhapsodisch. Das zu begleiten, das ist wirklich nicht einfach für ein Orchester. GS: Kann es sein, dass Bernstein dirigiert? Nein, Charles Munch… Mich erinnerte dieses sichere und bedingungslose Einsetzen des Orchesters zwischen den Solo-Passagen an Bernstein. ER: Piatigorsky hat auch so eine Großzügigkeit. So war er als Typ, aber auch in seinem Spiel: Lass mal Fünfe gerade sein und das einfach klingen. Er verzeiht sich auch einiges, aber das tritt in den Hintergrund, denn man sitzt gebannt da und fragt sich, was wohl als nächstes kommt. Er der Vertreter einer alten Schule schon wie er den Anfang spielt. Fantastisch. Alles hat etwas Erzählerisches.

Dvořák: Cellokonzert h-Moll op. 104

Heinrich Schiff (Violoncello)

Staatskapelle Dresden

Neville Marriner (Leitung)

1982. Philips

GS: Ich glaube, ich weiß es: Heinrich Schiff. Ich kenne seinen Tonfall ganz gut, seine Klangsprache. Am Anfang dachte ich, es könnte Mischa Maisky sein. Es war dann aber auch schnell klar, dass es nicht Maisky ist, der hat ein schnelleres und kontrolliertes Vibrato. ER: Erstaunlich, ich hätte nicht an Heinrich Schiff gedacht, obwohl ich die Cellisten aus unserer Zeit, nach Rostropowitsch, eigentlich alle ganz gut kenne. Es war klar, dass die Aufnahme neuer war. Aber es schwankte immer hin und her zwischen großartigen Momenten und solchen, die einen ein bisschen ratlos machten, mit kleinen technischen Aussetzern. Die ganz jungen Cellisten können es aber eben auch nicht gewesen sein, Müller-Schott, Alban Gerhardt, Sol Gabetta, die junge Riege. Jung und wild klang es eben auch nicht. Aber vielleicht haben wir da heute auch andere Hörgewohnheiten. Ich hätte mir ein bisschen mehr Poesie erwartet beim zweiten Thema, so wie es der Hornist in der Einleitung macht. Und mich wunderte, dass der Dirigent und der Solist ganz unterschiedliche Ansätze verfolgen, daher kam ich nicht auf Schiff. Es ist auf jeden Fall im Solopart eine etwas modernere Ästhetik als Piatigorsky, alles ein bisschen stringenter. Der Solist nimmt sich insgesamt nicht mehr so viel Zeit. Aber irgendwie gefällt mir dieses Spiel auf volles Risiko auch!

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