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Interview Gil Shaham

„Meine Schwester und ich zogen die Musik vor“

Als Kind zweier Wissenschaftler kostete es Gil Shaham viel Überredungskunst, dass ihm seine Eltern eine Geige kauften. Doch am Ende setzte er sich durch.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

In die neue Saison startete Gil Shaham noch ganz im Zeichen der Corona-Pandemie mit einem Auftritt auf „Dreamstage“, einer Digitalplattform, auf der Klassikfans am Computer Konzerte verfolgen können. Doch nun kehrt Normalität zurück in Shahams Musikerleben: Konzerte in Atlanta, Paris, Hannover, Tokio, Kansas City. Und das sind nur seine Konzerte bis Oktober.

Sie stammen aus einem spannenden Elternhaus. Ihre Eltern waren israelische Wissenschaftler, die als Forschungs-Stipendiaten an die Universität in Illinois kamen, wo Sie 1971 auch geboren wurden.

Gil Shaham: Ja. Mein Vater, Jacob Shaham, war ein bekannter Astrophysiker und meine Mutter Meira Diskin Genforscherin. Ich habe nie etwas verstanden, wenn die anfingen, beim Abendessen zu reden. Mein Bruder wurde auch Genforscher, aber meine Schwester und ich zogen die Musik vor.

Bei einer Gelegenheit erzählten Sie, dass Ihre Mutter eigentlich dagegen war, dass Sie als kleiner Junge Geige spielen wollten.

Shaham: Oh ja! Sie fand, wenn Kinder Geige spielten, würde es so klingen, wie wenn man mit dem Fingernagel über eine Schiefertafel fahren würde. Sie hoffte, dass ich es bald vergessen würde. Doch das tat ich nicht. Als wir nach einer Zeit in Israel wieder zurück in den USA waren, setzte ich mich durch und bekam eine Geige.

Inwiefern hat eigentlich umgekehrt die rationale Welt Ihrer Eltern Sie in Ihrem Denken und Ihrem Spiel geprägt?

Shaham: Das ist eine interessante Frage. Heutzutage sind Kunst und Wissenschaft ziemlich voneinander getrennt. Historisch war dies nicht immer so, man braucht nur an die Antike zu denken. Als ich jünger war, dachte ich mir nur, wie schwierig es doch in der Wissenschaft ist. Der Wissenschaftler hat hunderte Ideen, experimentiert im Labor, und immer wieder scheitert und scheitert er und kommt nicht wirklich auf die Lösung. 99 Prozent der Zeit eines Wissenschaftlers müssen sehr frustrierend sein. Ich habe dies alles in den Gesprächen meiner Eltern mitbekommen.

Und wie ist es bei dem, der Musik interpretiert?

Shaham: Früher dachte ich mir, dass es in der Musik kein Richtig oder Falsch wie etwa in der Wissenschaft gibt. Aber dann entdeckte ich, dass das so nicht stimmt. Wie oft muss man als Musiker diese Phrase oder jenen Abschnitt durchgehen und ausprobieren, bis alles richtig klingt, bis die Musik gelingt. Und je älter man wird, desto anspruchsvoller wird man auch mit sich selbst. Gleichzeitig scheint man mit der Zeit auch mehr Spaß an der Musik zu haben, auch wenn dies wider­sprüchlich klingt. Lorin Maazel sagte mir einmal: „Gil, du wirst sehen, Musik macht, je älter du wirst, immer mehr Spaß.“ Er war damals in seinen Siebzigern. Ich fange langsam mit meinen 49 Jahren an, diesen Satz zu verstehen.

Wie sieht es mit Ihrer Heimat aus: »Israel ist meine Mutter und Amerika meine Frau oder Freundin«, stand irgendwo mal über Sie zu lesen …

Shaham: Ja, das trifft zu. So empfinde ich es. Meine Eltern pendelten wegen ihrer Karrieren immer zwischen zwei Kontinenten. Nach meiner Geburt sind wir wieder zurück nach Jerusalem gegangen, wo ich einige Jahre lebte. Mit elf Jahren aber war ich wieder in New York.

Gil Shahams Augenmerk gilt auch Violinkonzerten der Dreißigerjahre. In Hannover ist er mit Prokofjews zweitem Violinkonzert von 1935 zu erleben.
Gil Shahams Augenmerk gilt auch Violinkonzerten der Dreißigerjahre. In Hannover ist er mit Prokofjews zweitem
Violinkonzert von 1935 zu erleben.

Kurz vorher aber, noch im Alter von zehn Jahren, hatten Sie 1981 mit dem Jerusalem Symphony Orchestra unter der Leitung von Alexander Schneider und mit dem Israel Philharmonic Orchestra unter Zubin Mehta debütiert.

Shaham: Ja. Meine Familie plante eigentlich nur ein Jahr in Amerika zu verbringen. Aus dem einen Jahr wurden 38, wie das nicht selten bei Migranten vorkommt. Ich habe die israelische und amerikanische Staatsbürgerschaft.

Mussten Sie eigentlich mit Ihrer doppelten Staatsbürgerschaft den israelischen Wehrdienst ableisten?

Shaham: Nein, da hatte ich wirklich Glück. Ich konnte mich ganz auf meine Geigerlaufbahn konzentrieren. Ich ging an die Juilliard School in New York. Dort hat auch zeitweise meine Schwester, die Pianistin Orli Shaham studiert. Doch wir traten damals nicht gemeinsam auf, weil wir nicht wie die klassische Ausgabe der amerikanischen Varieté-Showkünstlergeschwister Donny & Marie Osmond wirken wollten.

Dafür versammeln Sie heute Ihre halbe Familie in Ihrem »Restaurant mit hoffnungsvollen Menschen«, wie Sie Ihr Plattenlabel Canary Classics nennen. Ihre Frau, die australische Geigerin Adele Anthony, mag offenbar das Essen …

Shaham: Ja, absolut! Meine Frau ist bei vielen CD-Produktionen mit dabei und auch Orlis Mann David Robertson, Musikdirektor des St. Louis Symphony. Wir haben das Label 2004 gegründet, auch weil wir die Erfahrung machten, dass unsere Repertoirevorschläge immer wieder abgelehnt wurden, weil angeblich „kein Markt“ dafür da sei.

Welche denn?

Shaham: Etwa Kammermusik von Fauré. Wir produzierten ein Album, das sogar in Amerika in die Charts kam. Und heute produzieren wir etwa zwei bis drei Aufnahmen pro Jahr. Ich muss allerdings auch zugeben: Die heutige Technologie hilft uns sehr, macht vieles deutlich einfacher. Wenn man in den Achtzigern oder Neunzigern Aufnahmen machte, dann arbeitete man mit einem riesigen Equipment, das oft so aussah wie eine immense Tiefkühl­truhe. Heute reichen für eine Aufnahme höchster Qualität manchmal nur ein oder vielleicht zwei kleine Laptops. Obendrein ist eine CD-Produktion heute so viel billiger als damals.

Canary Classics haben Sie Ihr Label genannt.

Shaham: Ein Wortspiel aus Kanarien­vogel und „canar“, dem hebräischen Wort für Geiger.

Was sagt denn Ihre französische Comtesse dazu?

Shaham: Sie meinen wohl meine Stradivari „Comtesse de Polignac“ von 1699? Also, ich bin sehr glücklich mit ihr. Ich hoffe, sie auch mit mir. Ich habe sie seit 1989. Sie stammt noch aus einer Zeit, als Stradivari mit den Instrumentenformen experimentierte, weshalb man sie auch „longie“ nennt, weil sie ein bisschen länglicher, schmaler ist als andere und fast schon die Form einer Glocke hat. Und auch wenn sie nicht aus Stradivaris Goldener Zeit stammt… it still sounds amazing! Auch ihre Geschichte ist interessant.

Erzählen Sie!

Shaham: Das Instrument gehörte ursprünglich der Comtesse von Polignac, die am Hofe Ludwigs IV. eine einflussreiche Person nicht nur im französischen, sondern auch im venezianischen Musikleben war. Sie ist nicht zu verwechseln mit den anderen späteren Prinzessinnen aus dieser Familie. Die Comtesse gab viele Konzerte bei Vivaldi in Auftrag und brachte wohl seine Vier Jahreszeiten zur Aufführung nach Paris. Dann verbrachte das Instrument viele Jahre, vielleicht Jahrzehnte in Frankreich, kam dann nach England, später Australien, bis ich in Chicago auf es stieß, weil ich den vorherigen Besitzer kannte. Der bot mir an, die Geige zu kaufen. Ich war damals achtzehn Jahre alt, sprach mit den Banken, nahm große Kredite auf. Heute gehört sie mir. Eines Tages, nach einem Konzert in Frankreich, kam ein Paar hinter die Bühne und sagte: „Wir sind die Po­lignacs, wir wollen die Geige zurück.“ Sie machten natürlich nur einen Witz.

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