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Ballett-Kritik: Hamburgische Staatsoper – Dona nobis pacem

Bach ein Bein gestellt

(Hamburg, 4.12.2022) In seiner letzten Kreation bleibt der große, der legendäre John Neumeier hinter den riesigen Erwartungen an ein letztes Meisterwerk zurück. Johann Sebastian Bachs „H-moll-Messe“ scheint sich dem konkretisierenden Zugriff des Choreographen zu entziehen. Doch seine junge Compagnie begeistert.

vonPeter Krause,

Das Licht im Saal der Hamburgischen Staatsoper ist noch an. Da stürmt aus der rechten Portaltür ein junger Mann auf die Bühne, verhetzt, gejagt, fertig: ein Soldat auf der Flucht. Er schleppt sich bis an die gegenüberliegende Seite, wo er erstmal liegenbleibt. So viel Realismus behauptet John Neumeier selten. In seiner (vorerst) letzten Kreation, die sein unglaubliches Jubiläum – der Amerikaner feiert 2023 den 50. Jahrestag als Chef des Hamburg Ballett, das heute seinen Namen trägt – mit einem finalen Höhepunkt krönen soll, steigt er mit einem extrem konkreten Bild ein. Ja, es ist Krieg in Europa. Der Kanzler, der aus Hamburg stammt, ist Ehrengast der Premiere, er ist ein Ohnmächtiger wie wir alle. Er hat zwar die Telefonnummer des Schlächters im Kreml und nutzt sie gelegentlich auch. Ob er nun beim nächsten Anruf den Kriegstreiber an Bachs Bitte des „Dona nobis pacem“ erinnern wird?

Szenenbild aus Neumeiers „Dona Nobis Pacem“
Szenenbild aus Neumeiers „Dona Nobis Pacem“

Bilder von Verschollenen, Getöteten, Gewesenen

John Neumeiers politisch aufgeladenes Vorspiel auf dem Theater kommt noch ohne Musik aus. Da muss der alte Bach noch schweigen. Den Einsatz gibt Holger Speck am Pult (nach störend ungeschicktem Auftrittsapplaus) erst, als sich Louis Musin, Darsteller des jungen Soldaten, erschöpft auf den Boden geworfen hat. Er trifft nun auf einen fotografierenden Kriegsreporter, in dessen Arme er sich wirft, und auf eine Witwe, die ihm wie eine barmherzige Samariterin ihren Mantel reicht. Auf der Hinterbühne erblicken wir einen Schützengraben voller Sandsäcke – und, so scheint es, Leichensäcke.

Ein anderer Mann, der einen Koffer schleppt, stolpert herein, sein Gepäckstück öffnet sich, und ein Haufen voller Fotos ergießt sich auf den Bühnenboden: Bilder von Verschollenen, Getöteten, Gewesenen mögen es sein. Eine Gesellschaft im Krieg muss sich mit dem Wahnsinn auseinandersetzen, dass die Jungen wegsterben, während sich die Alten und Übriggebliebenen an sie erinnern. Der Koffermann ist eigentlich ein Junger, aber er musste wohl nicht in den Krieg ziehen. Er könnte ein Zauderer, jedenfalls ein Zweifler und ein oft Verzweifelter sein, der sich wie der sterbende Christus zu fragen scheint: „Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Und: Warum hast Du uns verlassen? Warum lässt Du das all das Schlachten zu?

Szenenbild aus Neumeiers „Dona Nobis Pacem“
Szenenbild aus Neumeiers „Dona Nobis Pacem“

Bach widersetzt sich der Bebilderung ins Welthaltige

So weit, so konkret. Bachs „Kyrie“ aus der „H-moll-Messe“ hat dazu begonnen. Das edel und fein tönende Ensemble Resonanz und das famose, warm und klar singende, wiederum jung und frisch besetzte Vocalensemble Rastatt leihen dem Meisterwerk des Thomaskantors dazu ihre Stimmen. Sie singen und musizieren die katholische Messe des größten komponierenden Lutheraners aller Zeiten, der in wunderbar unzeitgemäßer Glaubensgewissheit und komponiert mit mathematischer Strenge so Genaues weiß vom engen Zusammenklang von Geburt, Tod und Auferstehung, von der Menschwerdung des Göttlichen und der Bitte um Frieden in der Allgegenwart des Todes. Doch dieser Bach widersetzt sich der Bebilderung ins Welthaltige. Er strebt in die Abstraktion, ins Geistige, ins Gebet. Neumeier, der sich seinerzeit – vor mehr als einem halben Menschenleben, als er Bachs „Matthäus-Passion“ so kongenial choreographierte – outete: „Ich bin Tänzer und Christ“, er traut seinem Bach in dieser seiner letzten Arbeit höchstens halb.

Lennard Giesenberg in der Rolle des Fotografen, lässt er Gedichte sprechen, die das aktuelle Schlachten in den Kontext früheren Schlachtens stellt: Der Tänzer rezitiert Günter Kunerts Hiroshima-Poem „Der Schatten“, wozu der Atompilz in rötlichem Licht seinen, so sieht es jedenfalls aus, milden Schrecken verströmt, dann nach der Pause, zu Beginn des „Credo“ John Lennons legendäres „Imagine“, jene modern friedensbewegte Vision einer brüderlichen, alle Grenzen überwindenden Menschheit, die freilich, ganz im Gegenteil zu Bach, ihre Utopie dezidiert jenseits der Tröstungstaktiken der Kirche praktiziert, herrsche dereinst dann doch „no religion too“.

Frömmelndes Verdoppeln und Verkleinern der Bach-Botschaft

Es wird freilich nicht ganz klar, ob diese Einschübe aufklärerisch bewusste Brechungen des in sich göttlich austarierten Bach-Kosmos sein sollen. Denn alsbald rutscht Neumeier wieder ins frömmelnde Verdoppeln und damit auch Verkleinern der Bach-Botschaft, wenn er erstmals zum hell jubelnd tönenden „Gloria“ eine Schar von (weiblichen) Engeln in strahlendem Weiß vor einer göttlich güldenen Wand auftreten lässt. „Et in terra pax“ bringt dafür aber gleich den Kontrapunkt: eine jugendliche Soldateska lässt die Goldwand verschwinden: Es wird nun wieder auf dem Schlachtfeld gestorben. Idealität trifft Realität. Gegenbilder. Die Engel helfen den toten Soldaten auf: ein erster Auferstehungsmoment als ferne Vision einer besseren Welt.

Szenenbild aus Neumeiers „Dona Nobis Pacem“
Szenenbild aus Neumeiers „Dona Nobis Pacem“

Massenmord und schöne heile Engelswelt kommen sich nah, jedenfalls viel näher als in den Stellungen in der Ostukraine, wo Tag für Tag, Nacht für Nacht real gestorben wird. Mitunter meint man zu merken, wie John Neumeier mit solchen Szenen hatte hadern müssen. Die Konzeption seiner Kreation ist älter als Russlands Überfall auf sein Nachbarland. Und doch bindet er die Assoziationen an das gegenwärtige Morden nur mühsam in den Kosmos der „H-moll-Messe“ ein, die im spirituell-liturgischen Überzeitlichen ihren Kern und ihre Wesenhaftigkeit hat. Bachs Ordnungsprinzipien kommen ins Wanken, seine Stringenz und Geschlossenheit schwinden, wenn man ihm zu viel Welt und ihren Schrecken überstülpt, ein Schrecken allerdings, der auf der Ballett-Bühne seinerseits etwas Ästhetisches, Abgemildertes erhält.

Dem Abend fehlen der dramaturgische Faden und die dialektische Schärfe

Immer dann aber fügen und schmiegen sich Musik und Tanz harmonisch aneinander, wenn John Neumeier dem tänzerischen Nachwuchs im Kollektiv vertraut, zumal wenn nach der Pause, im „Credo“, die Tänzerinnen und Tänzer zur Gemeinde werden und sich das Rituelle der Bewegungen wie selbstverständlich aus der Musik ergibt, wie die Bewegungen ihrerseits zu Musik zu werden scheinen. Doch diese Augenblicke, in denen alles so logisch klar funktioniert und sich wechselseitig bereichert, bleiben rar. Im „Confiteor“ schweben schwarz gewandete Damen mit Bibeln in der Hand ein, es müssen dies die Witwen der getöteten Soldaten ein. Und wenn im „Ossana“ schon alles gen himmlischen Frieden strebt, lässt der gefeierte Choreograph seine Tänzer als Jogger jener neuen Zeit entgegentraben.

Mit solchen Missgriffen stellt sich Neumeier selbst und zumal dem großen Bach ein Bein. Jetzt wird deutlich, wie sehr dem Abend der dramaturgische Faden und die dialektische Schärfe fehlt. Neumeier collagiert sich munter durch das eigene, fürwahr legendäre Schaffen, zitiert Versatzstücke eigener Arbeiten, zumal die epochale „Matthäus-Passion“, deren weißes Jesushemd nun vielsagende Auferstehung feiert. Die Figur namens „ER“ hantiert nun mit dem weißen Wams, „ER“, das ist der Koffermann des Beginns, der im Laufe des Abends zur Hauptfigur von „Dona nobis pacem“ wird. Aleix Martínez gibt ihm die eindrucksvolle Gestalt eines jesusähnlichen, indes modernen Suchenden nach dem Göttlichen in der Welt und in sich selbst. Die komplexe Zeichnung der Figur spricht für Neumeiers aufrechte Suche nach dem Dialektischen im tänzerisch Schönen.

Szenenbild aus Neumeiers „Dona Nobis Pacem“
Szenenbild aus Neumeiers „Dona Nobis Pacem“

Zwischen Kitsch und Ketzerei

Doch just im absoluten, auch theologischen Zentrum des Werks – im Glaubensbekenntnis des „Credo“ — versteigt sich der Meister des choreographischen Gesamtkunstwerks, der auch für Bühnenbild, Licht und Kostüme verantwortlich zeichnet. Als Neumeier in „Et in unum Dominum“ die mariengleiche „SIE“, Tänzerin Ida Praetorius, mit einem „Geistlichen“, Jacopo Bellussi, ein inniges Pas de Deux tanzen lässt, glaubt man noch des Choreographen mutiges Plädoyer wider das Zölibat in der katholischen Kirche zu erkennen. Offenbar zeugt hier ja der „Geistliche“ als tänzerische Verlebendigung des Heiligen Geists den Gottessohn Jesus.

Schließlich bringt die marienhafte „SIE“ höchstselbst den werdenden Messias im darauffolgenden „Et incarnatus“ est“ aus ihrem Mutterleib hervor. Eine erstaunliche Szene zwischen Kitsch und Ketzerei, die das fragende Finale halbwegs wettmacht: Als vertanztes, in betonter meditativer Ruhe ausgeschrittene Gebet endet das „Dona Nobis Pacem“ im Knien des jungen Ensembles. Keine Geste des Triumphs ist das, sondern eine Geste der Verbeugung vor Bach. Endlich. Doch vielleicht zu spät.

Hamburgische Staatsoper
Neumeier: Dona nobis pacem

Ausführende: Holger Speck (Leitung), John Neumeier (Choreographie, Bühnenbild, Licht und Kostüme), Yaiza Coll, Patricia Friza, Anna Laudere, Charlotte Larzelere, Xue Lin, Ida Praetorius, Ida Stempelmann, Madoka Sugai, Jacopo Bellussi, Christopher Evans, Alessandro Frola, Lennard Giesenberg, Marià Huguet, Aleix Martínez, Louis Musin, Edvin Revazov, Alexandr Trusch, Marie-Sophie Pollak, Katja Pieweck, Benno Schachtner, Julian Prégardien, Konstantin Ingenpass, Vocalensemble Rastatt, Ensemble Resonanz

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