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Reportage Ballett John Neumeier

Flamme der Kreativität

Als eine der ersten Compagnien nahm das Hamburg Ballett nach der Zwangspause wieder den Probenbetrieb auf.

vonIrem Çatı,

Hochkonzentriert beugen sich Madoka Sugai und ihr Partner Nicolas Gläsmann zu dem am Boden liegen Tänzer hinunter. Ihre Hände nähern sich seinem Gesicht. „Stop!“, heißt es plötzlich. Bevor sie ihm zu nahe kommen, sollen sie sich erst hinten im Probensaal die Hände waschen, ruft John Neumeier den Tänzern zu. Gelächter breitet sich im Team aus und auch der Ballettdirektor selbst muss schmunzeln: „Safety first!“ Nachdem auch die Ballettschule Neumeiers vom coronabedingten Lockdown betroffen war, setzte sich der 81-Jährige leidenschaftlich dafür ein, seine Tänzer wieder zusammenzubringen – zumindest während der Probe. Ein strenges Hygienekonzept musste entwickelt werden, das den Ensemblemitgliedern die Arbeit wieder möglich machen sollte. Seit dem 27. April laufen die Proben zwar wieder, doch von „normal“ kann noch immer nicht die Rede sein.

Die Tänzer müssen Sicherheitsabstand zueinander halten, dürfen sich nicht anfassen, und nur diejenigen, die miteinander liiert sind, dürfen als Paar miteinander tanzen. Auch dürfen immer noch nur Kleingruppen von sechs bis sieben Tänzern eine Probe bestreiten. Für das sechzig Ensemblemitglieder zählende Hamburg Ballett bedeutet das, dass es pro Tag zehn unterschiedliche Trainings gibt. Um trotzdem den Überblick zu behalten, besucht John Neumeier jede einzelne Probe für zehn bis fünfzehn Minuten. Dabei ist dem Choreografen vor allem eines aufgefallen: „Ich habe mir jeden Tag die Trainings angeschaut und fand es bewundernswert, wie sich diese professionellen Tänzer so intensiv mit den klassischen Techniken des Balletts ausei­nandergesetzt haben. Aber es fehlte ein Inhalt. Und so habe ich mir überlegt, was ich machen könnte, damit die Flamme der Kreativität in dieser schwierigen Zeit weiterbrennt.“

Die Musik erzählt die Geschichte

Nicht nur auf der Bühne ein Paar, sondern auch privar liiert: Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann
Nicht nur auf der Bühne ein Paar, sondern auch privar liiert: Madoka Sugai und Nicolas Gläsmann

Entstanden ist „Ghost Light“, ein Ballett, dem das strikte Abstandsgebot als Grundlage dient. Es beruht auf Improvisationen Neumeiers und besteht aus einzelnen Fragmenten, die alle Ensemblemitglieder einbeziehen. Seit dem 11. Mai laufen die Proben, und auch das heutige Training ist mit insgesamt sechs Tänzern sowie John Neumeier, einer Ballettmeisterin und einer Choreologin komplett. Mit der ersten Solistin des Hamburg Balletts, Madoka Sugai, und ihrem Partner Nicolas Gläsmann ist sogar ein Pas de deux zu erleben. Neumeier schaut erst einmal lange zu, bis er kommentiert, Tipps gibt und Ideen zu neuen Figuren vorschlägt. Auf die Frage, ob „Ghost Light“ eine Geschichte hat, antwortet der Choreograf mit einem klaren Nein. „,Ghost Light‘ ist wie ein sinfonisches Ballett. Dabei habe ich vorher kein Konzept, sondern lasse mir von der Musik eine Geschichte erzählen. In diesem Fall von der Musik Schuberts, die sehr melodisch, aber unterschwellig auch sehr emotional und gefühlvoll ist.“

Der Vorteil von Schuberts Musik für Solo-Klavier ist, dass das Ballett kein Orchester braucht und auch musikalisch die ­Hygiene- und Abstandsregeln einhält. Als Neumeier mit den Proben zu „Ghost Light“ anfing, wusste er noch nicht, ob es jemals aufgeführt werden kann. Glücklicherweise öffnet die Hamburgische Staatsoper zur neuen Saison wieder ihre Tore, so dass Neumeiers Stück am 6. September seine Premiere feiern kann. Ein Novum für das Ballett, das die neue Saison normalerweise immer mit einer Wiederaufnahme beginnt. Spannend ist, dass weder Neumeier noch die Tänzer wissen, wie das Stück am Ende aussehen wird, da nur die einzelnen Fragmente geprobt werden, aber kein gesamter Ablauf stattfinden kann.

John Neumeier hatte Sorge um das Ensemble

Dennoch: Das Hamburg Ballett zählt zu den ersten Compagnien weltweit, die nach dem Lockdown das Training wieder aufgenommen haben und jetzt ein abendfüllendes Programm auf die Bühne bringen werden. Den Ballettdirektor freut es besonders, da er während der unfreiwillig freien Zeit sehr besorgt um sein Ensemble war. „Meine Hauptverantwortung gilt nicht mir, sondern meinem Ensemble“, erklärt er, „den jungen Menschen, die einen Abschluss in meiner Schule machen und am Anfang ihrer Karriere stehen. Ich habe mir also vor allem Gedanken darüber gemacht, was ich für sie tun kann – wie ich einen Weg finde, damit sie nicht verlernen, wofür sie so hart trainiert haben.“ Nicht nur hat Neumeier es geschafft, seine Tänzer zurück auf die Bühne zu bringen, er hat auch die Ausbildung von zwei Mitgliedern verlängert, die wegen der Coronakrise Schwierigkeiten hatten, eine Anstellung zu finden.

John Neumeier
John Neumeier

Während des Lockdowns haben die Tänzer über Zoom miteinander trainiert, auch die Schüler des Internats der Ballettschule John Neumeier führten ihre Proben digital weiter. Für die jungen Leute aus allen Ecken der Welt oftmals eine Herausforderung: Nicht selten fand das Training für sie wegen der Zeitverschiebungen mitten in der Nacht statt. Das ändert sich hoffentlich bald, denn bis Anfang September sollen die Schüler wieder zurück in Hamburg sein. Etappenweise, versteht sich! Zunächst die Abschlussklassen, dann die Mittelstufen und zum Schluss die Vorschulen.

Tanzende Geister

John Neumeier arbeitet hart daran, wieder Normalität in den Alltag der Ballettschule zu bringen. „Ghost Light“ ist ein kleiner Schritt dahin. „Ich möchte auf keinen Fall ein Potpourri-Programm machen, so wie es einige meiner Kollegen gezwungen sind zu tun. Für ein hungriges Publikum ist das natürlich in Ordnung, aber für mich wäre es die absolut letzte Rettung.“ Bisher sieht es gut aus für die Premiere.

Wer sich jetzt noch fragt, woher der Titel „Ghost Light“ eigentlich kommt: Der Begriff des sogenannten Geisterlichts entstand in England. Das Licht wurde nachts auf die Theaterbühnen gestellt, um den Geistern verstorbener Darsteller zu leuchten, damit diese weiterhin ihre Rollen spielen konnten. Die Tradition wird bis heute fortgeführt, sogar auf dem Broadway. Erst am Morgen, wenn wieder Tageslicht in die Thea­terräume kommt, erlischt das Geisterlicht. Für Neumeier und seine Ballettcompagnie bleibt zu hoffen, dass auch bei ihnen bald wieder viel Helligkeit eintritt und sie ihr coronabedingtes „Ghost Light“ ausschalten können.

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