Startseite » Oper » Der aufgeklärte Beethoven

Opern-Kritik: Insula Orchestra – Fidelio

Der aufgeklärte Beethoven

(Paris, 16.5.2022) Die französische Dirigentin Laurence Equilbey schlägt mit ihrem Insula Orchestra in der Seine Musicale ein ganz neues Kapitel der Beethoven-Interpretation auf. So triumphiert der klassische Geist der Aufklärung.

vonPeter Krause,

Ist der „Fidelio“ nicht eigentlich Mozarts beste Oper? Und nicht nur Beethovens einzige? Im vor fünf Jahren eröffneten neuen Konzerthaus vor den westlichen Toren von Paris – mitten auf jener Seine-Insel gelegen, auf der einst berühmte französische Autos gebaut wurden – dirigiert Laurence Equilbey das Schmerzenskind des Wiener Klassikers aus Bonn und räumt in La Seine Musicale mit so ziemlich allen Vorurteilen auf, die sich um das berühmte Werk ranken. Die lauten: Der „Fidelio“ schwankt unentschlossen zwischen biedermeierlichem Singspiel und Vor-Wagnerschem Musikdrama. Das jubelnd utopische C-Dur-Finale ist unglaubwürdige Affirmation – Beethoven also in Abwandlung eines bösen Bonmots von Adorno ein „schlechter Ja-Sager“. Die Sänger regelmäßig an ihre Grenzen bringenden Gesangspartien zeugen von Beethovens Unvermögen, geschickt für die menschliche Stimme zu schreiben.

Szenenbild aus „Fidelio“
Szenenbild aus „Fidelio“

Beethoven dirigieren mit dem Wissen um Mozarts Einfluss

Vom ersten knackigen Akzent der Ouvertüre an macht Laurence Equilbey mit ihrem Insula Orchestra deutlich, wie sehr wir da doch gemeinhin allerhand Irrtümern erlegen sind. Und dass man Beethoven hier doch „nur“ mit der richtigen historischen Perspektive angehen muss, um das Werk als ein geniales Ganzes zu verstehen, das letztlich gar keine Brüche oder Widersprüche aufweist, sondern in seinem dem Geist der Aufklärung verbundenen Ethos schlichtweg ernstgenommen werden will. Das tut die Französin auf hinreißend historisch informierte Weise: in tieferer Stimmung als ein klassisches Sinfonieorchester; mit einem luzide durchsichtigen, aufgehellten Klangbild; mit schlankstimmig beweglichen Sängern, die man in Mozarts „Don Giovanni“ weitaus eher erwarten würde als in Wagners „Der fliegende Holländer“; mit dem Ideal der Klangrede, wie es ihr einstiger Mentor Nikolaus Harnoncourt predigte, der es aber etwa in seiner Einstudierung an der Hamburgischen Staatsoper (vor nunmehr 30 Jahren) angesichts der Blockaden oder doch zumindest der seinerzeit noch mangelnden Reife des dortigen Orchesters kaum in die klingende Tat umsetzen konnte.

Szenenbild aus „Fidelio“
Szenenbild aus „Fidelio“

Mozart-Sänger wagen Beethoven – und gewinnen auf ganzer Linie

Kurz: Laurence Equilbey denkt den „Fidelio“, der Richard Wagner später zu einer Art Geburtshelfer für sein Konzept des Musikdramas wurde, eben gerade nicht von der Perspektive des Bayreuther Meisters aus. Ihr „Fidelio“ kommt von Mozart, was man auf verblüffende Weise gerade in den Gesangsensembles merkt, die bei ihr an „Die Zauberflöte“ und „Die Entführung aus dem Serail“ erinnern, mitunter sogar an die Da Ponte-Opern des Salzburger Musensohns. Und sogar Beethovens Figuren erinnern an Vorbilder bei Mozart. Besonders der exquisite junge lyrische Tenor des Patrick Grahl als Jaquino macht das deutlich: Er wird zu einer vom Bariton in die höhere männliche Stimmlage aufgestiegenen Papageno, der in perfekter deutscher Diktion seine Gesangslinien aus dem Text heraus denkt und entwickelt. Seine Auserwählte, die sich indes in Genderkonfusion in einen anderen Mann verguckt, der eigentlich eine Frau, mithin Leonore, ist, singt Hélène Carpentier mit entzückenden Soubrettentönen, nur fehlt es ihr noch an der Prägnanz der deutschen Konsonanten. Christian Immler geht den Kerkermeister Rocco wiederum nicht mit der wuchtigen Bassmacht eines Hagen oder Hunding an, sondern mit der präzisen Eloquenz des Dieners Leporello, der sich von seinem schlechten Herrn Pizzaro am Ende emanzipiert. Letzteren gibt Sebastian Holecek vergleichsweise konventionell als einschüchternd intensiven, düster baritonflammenden Bösewicht.

Stanislas de Barbeyrac, der mit Equilbey bereits einen eindringlichen Max in Webers „Der Freischütz“ gestaltete, ist ein berührender Florestan: Den ersten Ton seiner Partie, den legendären Ausruf „Gott“, wagt er als gleichsam nicht enden wollendes Crescendo, das als Pianissimo aus dem Kerkerdunkel kommt und aus tiefster Seele heraus zu einer Fortissimo-Anklage seines kernigen, ganz persönlich herb timbrierten Tenors anschwillt. Der von einem Gewaltmenschen eingesperrte Unschuldige gewinnt bei Stanislas de Barbeyrac geradezu eine Christus-Gleichheit. In seinem „Gott“ scheint geradewegs Jesus‘ seinen Vater anrufendes „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ mit. Seine Stimme harmoniert perfekt mit Sinéad Campbell Wallace, die für die Leonore ihren in allen Lagen gut durchgebildeten dramatischen Sopran einbringt, der von den Klippen der Partie nichts zu wissen scheint, sie jedenfalls alle lustvoll meistert.

Szenenbild aus „Fidelio“
Szenenbild aus „Fidelio“

Mit allen Qualitäten der Klangrede

Die absolute Hochspannung des pausenlos gespielten Abends aber geht vom Insula Orchestra aus, das seine Chefin Laurence Equilbey zu einer veritablen neuen Lesart jenseits aller Klang-Klischees inspiriert. Den „Fidelio“ mit dem ganzen Wissen der Historischen Aufführungspraxis anzugehen, macht nicht nur Sinn, es wird auch sonst nie mit dieser feinfühligen Konsequenz umgesetzt. Die famosen Holzbläser scheinen von der Figurenlehre das Barock sehr viel zu wissen und artikulieren prägnant. Auf die Figurenlehre verstand sich ein Mozart schließlich noch, und auf dessen Wissen stützt sich Beethoven. Die Streicher spielen sehnig und vibratobefreit, der Pauker konturiert die Affekte trocken und sprechend. Das Tuba mirum, das Ernst Bloch im erlösenden Trompetensignal identifizierte, erhält von einem historisch nachgebauten Instrument all die Qualitäten der Klangrede, um die es der Dirigentin bei ihrem Beethoven eben geht.

Szenenbild aus „Fidelio“
Szenenbild aus „Fidelio“

Artikulationschärfe trifft Klangschönheit und eine Inszenierung, die der Musik dient

Bei alledem wird Laurence Equilbey nie zur Extremistin eines neuen Beethoven-Bildes. Sie überreizt nichts, das geschärfte artikulatorische Moment schließt bei ihr die Schönheit des Legatospiels nicht aus. Ihre Interpretation ist aufklärerisch im umfassenden Sinne – und die geht ganz im Beethoven-Sinn zugleich zu Herzen. Ihre Entscheidungen schließen kleine kluge Eingriffe nicht aus, die am Ende besonders den Text betreffen. Das im Libretto etwas überstrapazierte Ideal der „Gattenliebe“ weitet sie ins allgemein Menschliche. Statt „Wer ein holdes Weib errungen“, singt der herrliche Chor accentus zur Apotheose in C-Dur schließlich „Wer ein liebend Herz errungen“. Auch die Inszenierung von David Bobée schärft die Botschaften unaufdringlich und authentisch. Der Regisseur hat sich selbst auch das Bühnenbild ersonnen, dass neben der zentralen Spielfläche mit riesigen Betonquadern das Staatsgefängnis eines totalitären Systems sinnfällig stilisiert. Sabine Siegwalt hat die Sänger dazu in deprimierendes Grau gesteckt. Die Personenregie dient respektvoll der Musik, braucht keine Mätzchen und Brechungen, sondern setzt auf das Authentische der Begegnungen – und lässt Laurence Equilbey als dirigierende Beethoven-Regisseurin das Primat in einem Abend, der mehr genuin Neues über „Fidelio“ enthüllt als jeder Inszenierungsfuror der Dekonstruktion es je vermögen würde.

Insula Orchestra in der Seine Musicale
Beethoven: Fidelio

Laurence Equilbey (Leitung), David Bobée (Regie & Bühne), Sabine Siegwalt (Kostüme), Stéphane Babi Aubert (Licht), Wojtek Doroszuk (Video), Marc Korovitch (Chor), Stanislas de Barbeyrac, Sinéad Campbell Wallace, Christian Immler, Sebastian Holecek, Anas Séguin, Hélène Carpentzier, Patrick Grahl, accentus, Insula orchestra

Auch interessant

Rezensionen

  • Asya Fateyeva steht mit Hingabe für die Vielseitigkeit ihres Instruments ein.
    Interview Asya Fateyeva

    „Es darf hässlich, es darf provokant sein“

    Asya Fateyeva, Porträtkünstlerin beim Schleswig-Holstein Musik Festival, spricht über den Reiz und die Herausforderungen des für die Klassik so ungewöhnlichen Saxofons.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!