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Opern-Kritik: Meininger Staatstheater – Der fliegende Holländer

Senta im Kino-Fieber

(Meiningen, 16.10.2021) Es braucht gar kein Meeresrauschen, um Wagners psychische Bruchstellen zu verdeutlichen: GMD Philippe Bach und Regisseur Kay Metzger setzen die große Wagner-Tradition am einzigen Staatstheater Thüringens eindrucksvoll fort.

vonRoland H. Dippel,

Schöne Geste: Im explosiven Beifall des endlich wieder voll besetzbaren Zuschauerraums sprach Ansgar Haag, der im Sommer 2021 seine langjährig erfolgreiche Intendanz beendete, die Premierenworte. Denn sein Nachfolger Jens Neundorff von Enzberg war bei der gleichzeitig stattgefundenen Koproduktionspremiere von Johann Christian Bachs Premiere „La clemenza di Scipione“ in Eisenach. Ein riesiger Erfolg für das einzige Staatstheater Thüringens mit seiner seit dem legendären „Ring“ von Kirill Petrenko und Christine Mielitz international beobachteten Wagner-Linie. Endlich wieder ein gefüllter Graben und Chormassen auf der Bühne! Die souveräne musikalische Leitung der Meininger Hofkapelle unter GMD Philippe Bach, der das Haus 2022 nach 11 Spielzeiten verlassen wird, war diesmal fürwahr besonders. Während Opernhäuser sich immer häufiger für die blechgepanzerte Urfassung von Richard Wagners 1843 in Dresden uraufgeführter romantischer Oper entscheiden, spielte man in Meiningen die Ouvertüre mit dem sogenannten Erlösungsschluss und nahm vieles aus dem von Wagner für die Münchner Aufführung 1860 gelichteten Orchestersatz.

Echte Liebe?

Kay Metzgers Inszenierung hätte bereits vor 17 Monaten Premieren feiern sollen. Von Haag wurde sie aus dem Theater Ulm nach Meiningen geholt. Metzger ging es um das ganz große Kino, welches in Sentas schwärmerischem Kopf zu noch größeren Sturmes- und Liebeswellen anschwillt. Wagners letzte milde Takte betätigen das, selbst wenn es in Meiningen keinen Liebestod mit Umarmung über den Wolken gibt: Da geht die inzwischen stark gealterte Frau noch immer vom eindrucksvollen Kino-Café mit einem intensiven Blick auf das Leuchtplakat mit dem verführerischen Meer-Abenteurer in den Lichtspielsaal, Davor trinkt sie immer eine einfache Tasse Kaffee und faltet Origami-Tauben. Angetan hat es ihr der Held aus „Fluch der Meere“ – auch als Mann.

Meininger Staatstheater: Der fliegende Holländer
Meininger Staatstheater: Der fliegende Holländer

Hier werden von der Schiffsbesatzung keine Unterdecks geleert, sondern multiples Gastro-Personal poliert Gläser. Beim Bundes-Chortreffen wäre Manuel Bethes Chorensemble preisverdächtig. Mary und Steuermann sind unter ihnen: Rafael Helbig-Kostka und Tamta Tarielashvili geben diese beiden Nebenpartien charakterstark und sängerisch hochklassig. Aber die im Kino ein bisschen Lebensintensität suchende Senta behandeln sie ziemlich gleichgültig. So wie Senta aussieht – Bluse, Rock, Jäckchen, kaum Schmuck – ist bei ihr zu Hause nicht viel los. Und deshalb visioniert Senta sich in stumpfe Partnerschaftsprobleme hinein, die andere lieber nicht haben möchten. Die Pause ist – äußerst ungewöhnlich – in der Mitte des zweiten Akts genau da, wenn es Wagner nach Sentas Auseinandersetzung mit dem sie liebenden Erik aus dem Orchester besonders sehnsuchtssüchtig singen lässt.

Auch Abenteurer sind langweilig

Anders als Woody Allen in „The Purple Rose of Cairo“ belässt Petra Mollérus im zweiten Teil alles in Farbe, allenfalls die Charaktere werden immer blasser. Der Meininger Maske ist an Shin Taniguchi in der Titelpartie ein Meisterstück gelungen. Äußerst attraktiv und verführerisch ist sein Blick. Und sein Kostüm mit Ledermantel und Coltgürtel bedient alle Fluch-der Karibik-Wachträume. Aber zugleich bleibt das Gesicht welk und matt. Ein schwebender Walzer im sogenannten Liebesduett des erlösungssüchtigen Wanderers über die Weltmeere mit der ihm ihre Treue schenkenden Senta mündet in eine Mensch-ärgere-dich-nicht-Partie mit dem Papa Daland.

Meininger Staatstheater: Der fliegende Holländer
Meininger Staatstheater: Der fliegende Holländer

Deutlich wird: Diese Mega-Gefühle – des Holländers Erlösungswunsch und Sentas Todesbereitschaft – sind von außerirdischer Überspanntheit. Senta, die Kinogängerin, lebt ihre Emotionen aus in dem, was von der Leinwand auf sie herabprasselt. Und nach dem angedeuteten Schuss, den sie in einer bewegten Umarmung auf ihre und des Holländers Schläfen richtet, folgt keine Erlösung im Liebesnirwana Wagners, sondern nur ein weiterer Kino-Besuch mit stiller Hoffnung auf frische Gefühlsexplosionen. Da bleibt es gleichgültig, ob der blasse Erik ein Gedankenspiegel von Sentas tristen Zuständen daheim ist oder er in Cordhose und Beamtenweste zum Figurenarsenal von Sentas Lieblingsfilm „Fluch der Meere“ gehört. Metzger nimmt in seiner bestens unterhaltenden Inszenierung das See- und Seelendrama ernst, gerade weil er Wagners schon pathologische Manie auf ihre strukturellen Bestandteile herunterschraubt. Wahre Liebe gibt’s in Meiningen nicht einmal im Kino.

Musikalisches Glück mit selten gewordener Genauigkeit des Singens

Deshalb macht auch die musikalische Lichtung Sinn, indem sie den Partitur-Treibstoff ressourcenschonend behandelt. Unter den Kantilenen modelliert Philippe Bach filigrane Rhythmen, die Bläserorkane brillieren mit Opulenz. Diese Klarheit beherzigt auch die gesamte Besetzung. Das musikalische Glück des Abends kommt aus einer in dieser Form seltenen Genauigkeit des Singens, nicht als Kraftdemonstration. Shin Taniguchi und Lena Kutzner agieren reflektiert, bestens aufeinander bezogen und halten bis zum Schluss daran fest, Wagners detaillierte Interpretationsangaben nicht sinnlosen Lautstärken zu opfern.

Meininger Staatstheater: Der fliegende Holländer
Meininger Staatstheater: Der fliegende Holländer

Sentas Ballade ist auch kein oppositionelles Drama gegen den als ihre 20 strickenden Doubles auftretenden Damenchor, sondern ein Hinterfragen von anrührender Sensibilität. Taniguchi ist ein wortorientierter, alle Töne intensiv gestaltender Holländer und der Grübler mit Kleinbürger-Visionen hinter dem pittoresken Outfit. Dazu passt, dass auch Tomasz Wija als wendiger Kapitän Daland mit Säufernase aus der Polterpartie ein Kabinettstück macht. Eng und verklemmt gibt Michael Siemon Sentas Verhinderer Erik und wirkt so blass, dass sich das auf die Stimme zu übertragen scheint. Am Ende weiß man demzufolge nicht, was schlimmer ist: Wagners krude Erlösungsphantasie oder lebenslanges Erlebnismanko. Insgesamt gelingt dem Staatstheater Meiningen ein beeindruckender „Holländer“ ohne Meeresrauschen, der Wagners psychische Bruchstellen bemerkenswert verdeutlicht.

Meininger Staatstheater
Der fliegende Holländer

GMD Philippe Bach (Musikalische Leitung), Kay Metzger (Regie), Petra Mollérus (Bühne und Kostüme), Manuel Bethe (Chor), Savina Kationi (Dramaturgie) – Shin Taniguchi (Holländer), Lena Kutzner (Senta), Tomasz Wija (Daland), Michael Siemon (Erik), Rafael Helbig-Kostka (Steuermann), Marianne Schechtel, Tamta Tarielashvili (Mary), Chor des Staatstheater Meiningen, Statisterie, Meininger Hofkapelle

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