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Opern-Feuilleton: Dmitri Tcherniakov

Eine Moskauer Anti-Utopie

Sergej Prokofjews Oper „Krieg und Frieden“ strotzt nur so vor nationalistischen Tönen. Dennoch setzt Dmitri Tcherniakov das Werk an der Bayerischen Staatsoper in Szene.

vonPeter Krause,

Zuletzt wurde Michail Gorbatschow hier aufgebahrt, nachdem der frühere sowjetische Staatschef Ende August 2022 verstorben war: in jenem prunkvollen Säulensaal in der Nähe des Kremls, der, um 1775 im Stil des Klassizismus erbaut, wie ein Spiegel der russischen Geschichte wirkt und in dem sich zunächst das Zarenhaus der Romanows feiern ließ. Vor dem letztlich glücklosen Reformer Gorbatschow, der für die Öffnung und friedliche Annäherung an den Westen eintrat, nahm das Volk hier von vielen seiner Machthaber Abschied – zunächst 1924 von Lenin, 1953 dann von Stalin. In den 1930ern wurden hier Stalinistische Schauprozesse ebenso ausgetragen wie dann die Parteitage der Kommunistischen Partei oder anno 1948 jener Komponistenkongress, von dem aus die Diskriminierung und der Psychoterror ihren Lauf nahmen, die Dmitri Tcherniakov mit den Entwicklungen im faschistischen Deutschland vergleicht, die zur brutalen Ausgrenzung sogenannter entarteter Kunst führten.

In seiner Heimat durfte Kunst, die zuvor eine enorme, weit nach Westeuropa ausstrahlende Blüte der Avantgarde erlebt hatte, nun nicht mehr „formalistisch“ sein. Sie sollte der Doktrin des Sozialistischen Realismus folgen und dezidiert volksnah daherkommen. Auch Prokofjew wie Schostakowitsch wurden (annähernd) auf Linie gebracht. Der russische Regisseur, der zu Beginn des Gesprächs die Einschränkung kundtat, leider keine Geheimnisse zu seiner mit größter Spannung erwarteten Neuinszenierung von Sergej Prokofjews Oper „Krieg und Frieden“ preisgeben zu wollen, er erlaubt dann doch – wir treffen uns auf der Probebühne der Bayerischen Staatsoper – einen Blick durchs Schlüsselloch und einen bewegenden Einblick in seine Arbeit. Und Tcherniakov spricht mit großer Offenheit über sein Hadern mit diesem mitunter monströsen Monumentalwerk, in dem sich Russland – wie heute in seinem Angriffskrieg auf die Ukraine – als das Opfer europäischer Machtinteressen stilisiert, gegen die man sich ja „nur“ zur Wehr setzen wolle.

Dmitri Tcherniakov bringt in München seine sechste Inszenierung zur Premiere
Dmitri Tcherniakov bringt in München seine sechste Inszenierung zur Premiere

Ist das Werk heute überhaupt darstellbar?

Sein Inszenierungskonzept hat der Regiestar vor einem Jahr komplett verändert. „­Bereits vor dem Beginn des Krieges hatte ich allerdings meine Schwierigkeiten mit dem Libretto der Oper. Schließlich hat der gesamte zweite Teil des Stück damit zu tun, das russische Militär hochzujubeln.“ Ist das Werk also heute überhaupt darstellbar? Kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine überlegte Tcherniakov sogar, auf die Produktion zu verzichten. Für ihn ist klar, die Oper mit ihren auch im Libretto nicht zu überhörenden nationalistischen Tönen heute nicht auf die Bühne bringen zu können, ohne die Zusammenhänge mit dem Krieg mitschwingen zu lassen. „Selbst wenn wir dies alles ignorieren würden und einfach eine zauberhafte Blase der Kunst inszenierten, würde das Publikum die Kontexte wahrnehmen und in die Inszenierung hineinlesen. Da habe ich eine schwierige Aufgabe zu lösen.“ Seine nun gefundene Lösung, die Verlegung der Handlung in die geschichtsträchtige Moskauer Säulenhalle, die er fast im originalen Maßstab für die Bühne des Münchner Nationaltheaters nachbauen ließ, könnte nun in der Tat für einen Coup de théâtre sorgen. Und der skrupulöse Künstler, der die eigenen Ideen oft wieder verwirft, der mit den Werken, ihrer Deutung und sich selbst in ausgeprägter Sensibilität ringt, kann heute fast erleichtert konstatieren: „Schließlich reizte mich dann auch die gewisse Uninszenierbarkeit dieses Stücks.“

In seiner Opernproduktion (es ist für ihn bereits die sechste Inszenierung in München), die er nun trotz allem wagt, führt uns Tcherniakov in die Gegenwart, wir befinden uns im März 2023 in Moskau. Der Problematik eines behaupteten Bühnenrealismus in Zeiten der Grausamkeit des Kriegs ist er sich voll bewusst: „Die Bühne hat da immer eine ganz andere Atmung, Vieles wird verallgemeinert. Manchmal entstehen dann Abstraktionen, in denen man genau den Nerv der eigenen Zeit spürt. So wird es auch bei uns sein.“ Krieg wird also auf der Bühne omnipräsent sein. „Dieser Krieg hat weder mit dem Krieg von 1812 zu tun, den Napoleon gegen Russland führte und auf den sich Tolstoi in der Romanvorlage bezieht, noch hat er mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun, während dessen die Oper entstanden ist. Einen buchstäblichen Bezug zum Krieg von heute gibt es allerdings auch nicht. Wir wollen eine Art Parabel, also ein Gleichnis erzählen.“ Dazu hat er sich mit seinem Team spezielle tragische Umstände ausgedacht, in denen die Figuren des Stücks von Anfang an leben müssen. „Wir überlegen uns und fragen: Wie würde die Welt aussehen, wenn es so gekommen wäre? Wir denken hier in die Richtung einer Anti-Utopie. Alles was bei uns stattfindet, wird gut erkennbar und von heute sein. Aber den Zusammenhang, in dem die Figuren zu agieren haben, den haben wir konstruiert. Wir kreieren in der Inszenierung durchweg schreckliche Umstände für die Menschen, die an diesem Ort leben. Diese Umstände sind erfunden, und sie werden tragisch sein. Wir versuchen uns vorzustellen, was mit diesen Menschen in diesem Setting passieren würde. Hinter diesen von uns ausgedachten Konstellationen mögen die Zuschauer dann für sich einiges wiedererkennen.“

Durchaus konkret wird dabei das berühmte Auditorium der Säulenhalle erkennbar sein. In der aktuellen Realität in Moskau jedoch finde etwas ganz anderes statt, nämlich ein gleichsam normales, ja geradezu lässiges Leben. Eine Einladung zum Gastspiel der Münchner Inszenierung in Moskau dürfte damit durchaus ausgeschlossen sein. Zu vielschichtig verwebt der Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion die Fäden, durch die der berühmte Saal in der Inszenierung als geschickte Referenz mit Russlands Größe einst und heute verbunden wird. So wird die imperialistische Tradition eines „Make Russia great again” gespiegelt und gebrochen. „Darüberhinaus können wir anhand dieses Saales sehen, wie die Zeit an sich vergeht und wie die geschichtlichen Perioden in Russland einander ablösen – und sich wiederholen. Aber wir machen keine historische Rückschau.“

Der prunkvolle Säulensaal in der Nähe des Kremls dient als Vorlage für das Bühnenbild von „Krieg und Frieden“
Der prunkvolle Säulensaal in der Nähe des Kremls dient als Vorlage für das Bühnenbild von „Krieg und Frieden“

Aber was passiert am nächsten Morgen?

Listige Bezüge aber schwingen in großer Zahl mit. So wird die Münchner Premiere just am 5. März 2023 stattfinden, somit exakt an jenem Tag, an dem 70 Jahre zuvor, anno 1953, sowohl Stalin als auch Prokofjew starben. Der Komponist lebte nur 150 Meter entfernt von dem Säulensaal in der Wohnung der Verwandten seiner zweiten Ehefrau, Mira Mendelson, die wiederum die Autorin des ­Librettos ist und alles andere als eine direkte Übersetzung des Romans von Tolstoi vornahm. Das Werk ist für den Regisseur klar ein Produkt der 1940er-Jahre, also der späten Stalinjahre in der Sowjetunion. Oft wurde der Oper „Krieg und Frieden“ eine schiefe dramaturgische Anlage bescheinigt: Die private Perspektive auf das Liebesleben der jugendlich unbedarften, vielbegehrten Natascha im ersten Teil folge im zweiten die politisch-militärische um den zunächst Napoleon unterlegenen, schließlich siegreichen Feldmarschall Kutusow. „Denkt man an den Roman von Tolstoi zurück, gibt es diesen Bruch zwischen Frieden und Krieg nicht. Der Krieg schwingt immer mit, wenn auch in den privaten Szenen etwas abseits. Die Zweiteilung in Frieden und Krieg erscheint mir als sehr schematisch. Wir versuchen nun, diesen Unterschied zu verwischen. Der Krieg ist eine Voraussetzung des Stücks von Beginn an.“

Auch ein Happy End dürfte am 5. März eher unwahrscheinlich sein. Plumper Affirmation misstraut Tcherniakov ohnehin von jeher. Als er als junger Regisseur noch in Russland inszenierte, fragte man ihn, warum er denn bloß immer das Happy End zerstören würde, schließlich hätten die Werke doch oft eine lebensbejahende Botschaft. Seine Standardantwort lautete: „Sie glauben also an das Happy End? Gut. Dann gab es das an diesem Abend. Aber was passiert am nächsten Morgen?“

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