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Opern-Kritik: Grand Théâtre de Genève – Krieg und Frieden

Russland im surrealistischen Schweben

(Genf, 13.9.2021) Regisseur Calixto Bieito und Dirigent Alejo Pérez erfinden Prokofjews Tolstoi-Monumentaloper und sich selbst zur Saisoneröffnung neu.

vonPeter Krause,

Etwas ist faul im Staate Russland. Man merkt es freilich erst auf den zweiten Blick, wie es sich im Fall von großer Kunst (die an diesem Abend in jeder Hinsicht geboten wird!) ja auch gehört. Auf den ersten Blick ähnelt das prächtige Palais, das für Sergej Prokofjews Tolstoi-Monumentaloper „Krieg und Frieden“ am Grand Théâtre de Genève als Einheitsbühnenbild dient, dem hochadligen Rokokoprunk, wie er in traditionellen Inszenierungen von „Der Rosenkavalier“ so gern die Bühnen füllt. Zur Saisoneröffnungspremiere in Genf steht in diesem Interieur nun freilich allerhand scheinbar ungenutztes Inventar umher, das unter Plastikplanen verhüllt ist. Ein einziger Mensch scheint zunächst den Raum zu bevölkern: eine sehr junge und sehr schöne Frau im hellen Kleidchen springt darin herum wie ein Kind, das sich ohne jedes Nachdenken munter ins Leben hineinspielt. Doch das Mädchen ist gar nicht allein. Unter den Planen beginnen sich leicht angestaubte Wesen zu regen: Die Möbel lernen laufen. Das russische Ancien Régime erwacht zu neuem Leben.

Ein Anfang voller voller Poesie und voller surrealistischem Schweben

Welch eine kluge und konzise szenische Setzung also macht Calixto Bieito als Regisseur gemeinsam mit seiner Bühnenbildnerin Rebecca Ringst und seinem Kostümbildner Ingo Krügler zu Beginn der Inszenierung. Es sind Zeichen voller Poesie und voller surrealistischem Schweben, die diesen Anfang kennzeichnen. Wer sich dann im Laufe des Abends in die russische Historie hineindenkt oder aber das Programmheft konsultiert, entdeckt in diesem Palazzo nicht anderes als einen Raum der St. Petersburger Ermitage: Es handelt sich just um das nachgebaute Boudoir der Maria Alexandrovna – die Hessenprinzessin war als Gattin von Alexander II. über lange Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts Zarin von Russland. Hierin träumt nun die junge Natascha Rostova von einem anderen Leben, sehnt sich nach einem ursprünglichen Einssein mit der Natur, welches das Dasein in diesem gesellschaftlich geschlossenen System garantiert nicht bietet. Denn einen Ausgang sucht man im Nachbau des Boudoir vergeblich. Wenn ihr ebenso jugendlicher und teenagertrotziger wie verträumter Geliebter Prinz Andrei seinem Furor der Freiheit nachgeht, dann will er immer wieder die Wände hochklettern. Doch er kommt nicht weit. Natascha wird es ihm später gleichtun. Es gibt kein Entrinnen. Da balanciert Andrei dann auf den alten Möbeln herum. Der Dekadenz dieses leeren Menschen-Interieurs können die beiden Jungen kaum entfliehen. Denn noch halten die alten Mauern.

Szenenbild aus „Krieg und Frieden“
Szenenbild aus „Krieg und Frieden“

Tenorprotz schlägt Baritonpoeten

Als musikalisches und eindeutig erotisches Freiheitsversprechen des utopischen jungen Paars dient Prokofjew der Walzer, der hier also anders als bei Richard Strauss gerade nicht für die alte Ordnung steht. Wie gern würden die beiden sich in einem Tanz ins Leben hinaustragen lassen, Freiheit wagen. Als ungewohnt feinfühliger, hoch differenzierter Psychologe erweist sich Calixto Bieito, wenn er seiner Natascha die schrittweise Entdeckung ihrer Weiblichkeit, ergo auch ihrer Sexualität gönnt. Eine Kindfrau reift heran. Da muss es dann auch schmerzhaft bittere Erfahrungen geben. Denn bald steht die Schöne zwischen zwei Männern: Während ihre erste Liebe Andrei der Welt abhanden gekommen, ja fürwahr versponnen in die Ferne blickt, macht ihr der längst verheiratete Anatol mit der derart zielgerichteten Männlichkeit des erfahrenen Schürzenjägers den Hof, dass Natascha auf ihn hereinfällt. Seine drall blonde Schwester Hélène (Elena Maximova) fädelt das böse falsche Spiel ein. Und der Tenorprotz (Ales Briscein) schlägt den Baritonpoeten (Björn Bürger).

Szenenbild aus „Krieg und Frieden“
Szenenbild aus „Krieg und Frieden“

Ruzan Mantashyan erweist sich als sängerdarstellerische Offenbarung

Die Geschichte geht einem enorm zu Herzen, weil Bieito sie so fein ausgependelt und die Mittel wägend jenseits von plumpem Naturalismus erzählt. Während im Hintergrund die surrealistische Gesellschaftssatire in fantastischer, perfekt durchchoreogaphierter Präzision abläuft, sehnen ich die Jungen in unsere Aufmerksamkeit fesselnden Spots (Licht: Michael Bauer) nach einem anderen, einem wahren Leben. Kaum je waren Bieitos Regiearbeiten so durchdacht und durchgearbeitet wie nun hier in Genf. Selbst sein Handwerk der Entfesselung der Sänger wirkt noch einmal nachgeschärft: Zumal die wunderbare Ruzan Mantashyan erweist sich als Natascha als sängerdarstellerische Offenbarung. Mit ihrem so ungemein klug geführten Sopran entdeckt sie eine ungeahnte Dramatik im Lyrischen, verströmt unerhörte Farben und Schattierungen und macht den Reifungsprozess von der Kindfrau zur Tragödin erschütternd deutlich. Der baritonale Sympathieträger Andrei des Björn Bürger steht ihr nur wenig nach.

Szenenbild aus „Krieg und Frieden“
Szenenbild aus „Krieg und Frieden“

Absurdes Kriegstheater

Es muss der intensiv fruchtbaren Beratung durch Dramaturgin Beate Breidenbach geschuldet sein, dass Bieito den Bruch des Werks vom psychologischen Gesellschaftsdrama des ersten Teils zum politischen Volksdrama des zweiten vollständig zu kitten versteht. Denn im chorprallen Teil 2 der Oper treffen ja offiziell die französischen Belagerer unter Napoleon in Moskau ein, es wüten wüste Kampfeshandlungen, nach denen die Russen ihr geliebtes Moskau, die „Mutter aller Städte“, mit der Selbsterstörungswut der verbrannten Erde dem Feind bloß nicht in all seiner Schönheit überlassen wollen. Am Ende gehen sie dennoch als Sieger vom Platz. Patriotische Jubelchöre, die während der 1940er Jahre zur Entstehung der Oper die deutsche Belagerung spiegeln sollten, feiern Russlands Rückkehr zu alter Größe: einst, früher, heute.

Doch Bieito und sein Team denken das Stück hier radikal neu. Der problematische Pathos-Patriotismus wird freilich nicht einfach nur gebrochen und hinterfragt. Der Feind von Außen vielmehr verschwindet, das Chaos im Inneren tritt an seine Stelle. Die gesellschaftlichen Auflösungsprozesse, die sich in Teil 1 andeuten, werden nun in immer absurderem Kriegstheater vorgeführt. Die Wände bröckeln, die Rückwand fährt nach hinten, und die Decke des Palais hebt sich, das System bekommt heftige Risse. Bieito muss hier nicht plump aktualisieren, um zu verdeutlichen: Kriege kennen keine wahren Sieger, sondern nur Versehrte, Vernichtete und Verkommene. Der Palazzo wird immer mehr in seine Einzelteile zerlegt. Freilich in einem Krieg von innen heraus, ohne jeden sichtbaren Feind von außen. Andreis Liebestod, zu dem er seine Natascha noch einmal wiedersieht, veranlasst die einstige Kindfrau zum unsentimentalen Abgang und endgültigen Abschied einer modernen erwachsenen und diesem Chaos entwachsenen Frau in Jeans. Das Walzer-Leitmotiv kehrt noch ein letztes Mal wieder.

Szenenbild aus „Krieg und Frieden“
Szenenbild aus „Krieg und Frieden“

Alejo Pérez und die dirigentische Dialektik

Alejo Pérez am Pult des glänzenden Orchestre de la Suisse Romande setzt Bieitos Konzept mit den Mitteln der dirigentischen Dialektik genialisch um und führt es weiter. Der Argentinier spürt dazu die Doppelbödigkeit der Partitur mit Feinsinn auf. Prokofjew erweist sich als deutlich subtiler im Verfremdungseffekt als sein Kollege Schostakowitsch. Er konnte die Zensoren geschickt täuschen, die den Jubelchören Glauben schenkten, deren Affirmation jetzt indes stets mit einem Fragezeichen versehen scheint. Wer Ja sagt, kann sehr wohl Nein meinen. Bei aller Süffigkeit des Musizierens dreht und wendet Alejo Pérez die Notenzeilen, entdeckt in allen sensibel ausmusizierten Zwischentönen, welch eine große komplexe Partitur Prokofjew uns hier hinterlassen hat – viele Fragezeichen eingeschlossen. Und das Grand Théâtre de Genève unter seinem Intendanten Aviel Cahn erweist sich mit dieser wegweisenden Produktion als eines der ambitioniert mutigsten und wichtigsten Opernhäuser Europas, nicht nur, weil die szenische Stringenz so sehr stimmt, sondern weil sie in jedem Takt und in der Besetzung noch der kleinsten Nebenrolle musikalisch beglaubigt wird.

Grand Théâtre de Genève
Prokofjew: Krieg und Frieden

Alejo Pérez (Leitung), Calixto Bieito (Regie), Rebecca Ringst (Bühne), Ingo Krügler (Kostüm), Michael Bauer (Licht), Beate Breidenbach (Dramaturgie), (Licht), Sarah Derendinger (Video), Alan Woodbridge (Chorleitung), Björn Bürger, Ruzan Mantanshyan, Daniel Johansson, Ales Briscein, Elena Maximova, Dmitry Ulyanov, Lena Belkina, Natascha Petrinsky, Eric Halfvarson, Liene Kinca, Alexey Tikhomirov, Alexey Lavrov, Alexander Roslavets, Alexander Kravets, Chœur du Grand Théâtre de Genève, Orchestre de la Suisse Romande

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