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Opern-Kritik: Komische Oper Berlin – Œdipe

Ein Mensch auf der Suche nach sich selbst

(Berlin, 29.8.2021) Die Saisoneröffnung an der Komischen Oper mit George Enescus grandioser Ödipus-Vertonung gleicht einem Paukenschlag.

vonJoachim Lange,

Der Intendant der Komischen Oper Berlin, Barrie Kosky, hatte den (nicht existierenden) Gesamtspielplan der Hauptstadt auf seiner Seite. Am Deutschen Theater stand am Vorabend der „Œdipe“-Premiere in seinem Haus Sophokles’ „Ödipus“ auf dem Programm. In einer beeindruckenden Inszenierung von Ulrich Rasche, also einer Art von texttreuer Wortmusik. In der Komischen Oper war dann die Musik des Rumänen George Enescu (1881-1955) die Hauptsache. Was die Wirkung dieser Tragödie aus den Anfängen des Theaters betrifft, nahmen sich beide Abende nicht viel. Wobei die Wucht der Inszenierung und der Musik die Kürzung auf zwei Stunden (das Schauspiel dauerte drei) bei den maskenfreien, auf Lücke platzierten und 3G-geprüften Zuschauern im Haus an der Behrenstraße bei weitem aufwog.

Der Stoff von hallt über zweitausend Jahren durch das Gedächtnis der Menschheit

Der russische Regisseur Evgeny Titov hatte denn auch eher klug verdichtet, als einfach nur gekürzt. Es wird die ganze Geschichte bis zum Ende von Ödipus geboten. Titov meinte im Programmheftinterview, dass er sich den letzten Teil, in dem Ödipus geblendet durch die Welt irrt und nach Erlösung sucht, als einen Zeitraum von 60 Jahren vorgestellt hat. Der Ödipus-Stoff jedenfalls hallt – in welcher Form auch immer – schon seit über zweitausend Jahren durch das Gedächtnis der Menschen. Und hat nichts an Überzeugungskraft verloren. Es geht um den schuldlos Schuldigen auf der Suche nach sich selbst. Um ein Leben, das unter dem Orakelspruch beginnt, der Neugeborene werde den Vater erschlagen und die eigene Mutter heiraten.

„Szenenbild aus Œdipe“
„Szenenbild aus Œdipe“

Spektakulär archaisch

Der Bühnenraum von Rufus Didwiszus ist spektakulär archaisch. Die Kostüme von Eva Dessecker dazu passend. Es ist ein grau metallig schimmernder, nach oben offener und in die Tiefe sich leicht verjüngender Raum, der Palasthof oder auch inneres Gefängnis sein könnte. In der Mitte ein Wasserbecken. Darüber schwebt ein zusammengerollter Lattenrost aus Neonröhren, der so rätselhaft ist, wie die Sphinx, die er symbolisiert. Wenn Ödipus sich todesmutig ihren Fragen stellt und dadurch die Stadt rettet, dann entrollt sich dieses Objekt und korrespondiert mit der androgyn verfremdeten Erscheinung der dunkel fragenden Katarina Bradić. Zu Beginn jedenfalls kauert Ödipus am Rand und sieht der eigenen Geburt zu. Es ist ein gespenstisch öffentliches Ereignis, wenn Jocasta (Karolina Gumos) niederkommt. Der Neugeborene hat da schon den Kopf des Erwachsenen, und die Gestalten um diese Geburt herum wirken eher wie die Insassen einer Irrenanstalt, als ein Hofstaat.

„Szenenbild aus Œdipe“
„Szenenbild aus Œdipe“

Verhängnisvoller Vatermord

Eins ist klar: hier stimmt etwas nicht. Von Anfang an. Ödipus ahnt das, erinnert sich daran, verdrängt es eine gewisse Zeit, aber entkommt dem Verhängnis nicht. Seine Größe besteht darin, letztlich zu sich selbst zu stehen. Trotz dieses Rahmens einer Erinnerung wird die Geschichte chronologisch erzählt. In die gespenstische Freude über das gegen den Rat der Götter gezeugte Königskind platzt der blinde Seher Theiresias (mit machtvoller Gestalt und Stimme: Jens Larsen) und erinnert an die Weissagung über Vatermord und Inzest. Seine Jugend in der Fremde in Korinth bei König Polybos und Königin Merope (Susan Zarrabi) verhindern nicht, dass ein pures Gerücht über seine Herkunft Ödipus in eine existenzielle Krise stürzt und trotz der Schwüre Meropes, sie sei seine Mutter, aus dem Haus treibt. Als Ödipus am Scheideweg auf einen Konflikt mit einem Gewaltausbruch reagiert, kostet das (unwissentlich) den eigenen Vater das Leben. So erfüllt sich der erste Teil der Prophezeiung. Die Begegnung mit der Sphinx, der er auf die Frage, wer oder was größer als das Schicksal sei, trotzig mit „Der Mensch!“ antwortet und sie so besiegt, treibt ihn auf direktem Weg in die Arme jener Braut, die er nicht als seine wahre Mutter zu erkennen vermag. Hier ist es eine grandios surreale Szene, wenn sich diese Braut auf den Retter der Stadt stürzt und damit ihren eigenen Untergang besiegelt. Sie wird am Ende sich selbst umbringen und ihr Blut verspritzen.

„Szenenbild aus Œdipe“
„Szenenbild aus Œdipe“

GMD Ainārs Rubiķis lässt Enescus romantisch auftrumpfende Klangpracht vollends von der Kette – mit dem Orchester der Komischen Oper in Hochform

Das (nach 18 Monaten Pause wieder in voller Besetzung angetretene) Orchester der Komischen Oper unter GMD Ainārs Rubiķis ist in Hochform, lässt Enescus romantisch auftrumpfende Klangpracht von der Kette, hat aber auch die kontemplativen, leisen Töne für den Schlussteil zur Verfügung. Die Chöre – also die Chorsolisten und der Kinderchor des Hauses verstärkt durch das Vocalconsort Berlin – sind von David Cavelius und Dagmar Fiebach präzise einstudiert, und steuern ihren Part punktgenau (aus inhaltlichen Gründen und nicht wegen pandemiebedingter Einschränkungen) vom zweiten Rang aus bei. Das handverlesenes Ensemble krönt der phänomenale Ödipus von Leigh Melrose, der seinem Ruf als Spitzeninterpret für Werke des 20. Jahrhunderts alle Ehre macht. Auch Christoph Späth als Laios, Joachim Goltz als Kreon, Vazgen Gazaryan als Hohepriester, Johannes Dunz als Hirte oder Mirka Wagner als Antigone tragen ihren Teil zu einer überwältigenden, geschlossenen Ensembleleistung bei.

Barrie Kosky ließ dem Schlussapplaus eine kleine Ansprache voller Erleichterung und Hoffnung für sein Haus, das ambitionierte Programm und
die Zuschauer folgen. Die teilten seinen Optimismus nur zu gerne.

Komische Oper Berlin
Enescu: Œdipe

Ainārs Rubiķis (Leitung), Evgeny Titov (Regie), Rufus Didwiszus (Bühnenbild), Eva Dessecker (Kostüme), Diego Leetz (Licht), Leigh Melrose, Jens Larsen, Joachim Goltz, Vazgen Gazaryan, Shavleg Armasi, Johannes Dunz, Christoph Späth, Karolina Gumos, Katarina Bradić, Mirka Wagner, Susan Zarrabi, Chorsolisten der Komischen Oper Berlin, Vocalconsort Berlin, Kinderchor der Komischen Oper Berlin, Orchester der Komischen Oper Berlin

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