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Opern-Kritik: Komische Oper Berlin – Orfeo ed Euridice

Orpheisches Zank- und Glücksmysterium

(Berlin, 23.1.2022) David Bates steigert die geniale Gluck-Partitur zum Thriller, Damiano Michielettos Regie steht Harry Kupfers legendärer Inszenierung von 1987 in nichts nach. Ein Triumph auf ganzer Linie.

vonRoland H. Dippel,

Unter drei Aspekten ist die Premiere von Glucks „Orfeo ed Euridice“ bemerkenswert: Zum ersten für alle Länder und Kommunen, die in Kulturveranstaltungen trotz deren erfolgreicher Hygienekonzepte noch immer höhere Infektionsrisiken wittern als in der Gastronomie, in Kaufräumen und Büros: Es ist die sechste Premiere der Komischen Oper Berlin in dieser Spielzeit ohne Corona-Fall, ohne Schließungen und andere Schwierigkeiten des Publikumsverkehrs. Jeder weitere Kommentar erübrigt sich. Bei den beiden anderen Denkwürdigkeiten dieser Sternstunde geht es um Kunst und die ideale Form eines seit Jahrzehnten ausstrahlungsintensiven Musiktheaters: „Orfeo“ geriet nach der bewegenden „Katja Kabanova“ mit Annette Dasch im November 2021 zu einer weiteren aufregenden Premiere mit einem Star im Zentrum. Aber trotzdem zu viel mehr als einer sogenannten Star-Produktion!

Die Ruhmesgeschichte der Komischen Oper Berlin wird fortgesetzt.

Barrie Kosky und sein Team haben eben das richtige Händchen beim Aufspüren der richtigen Werke für die richtigen Gäste im richtigen Inszenierungsambiente. Die Reihe ist epochal: Nicole Chevalier, Dagmar Manzel und jetzt der in Berlin schon durch Auftritte an der Staatsoper unter den Linden bekannte Countertenor Carlo Vistoli. Noch dazu knüpft dieser „Orfeo“ an die eigene Ruhmesgeschichte der Komischen Oper an. 1987 war die „Orpheus“-Produktion von Harry Kupfer mit Jochen Kowalski, Dagmar Schellenberger und Christiane Oelze eine theatrale und musikalische Sensation. Hartmut Haenchen nahm damals nochmals mehrere Stufen im Sprung an die Spitze einer neuen Generation der Alte-Musik-Interpretation in den letzten Tagen der DDR.

Szenenbild aus „Orfeo ed Euridice“
Szenenbild aus „Orfeo ed Euridice“

Der „Orfeo“ vom Sonntagabend braucht sich hinter der Glanztat anno 1987 nicht zu verstecken. Einiges ist jetzt anders an der Behrenstraße als damals. Jetzt singt man – wieder ist es die Wiener Fassung von 1762 – in italienischer Originalsprache statt in deutscher Übersetzung. Anstelle der Chorsolisten der Komischen Oper wirkt diesmal als Gastkollektiv der Vocalconsort Berlin. Die Intensität, der Anspruch und die Konzentration aber sind so beeindruckend wie damals. Ein starkes Haus!

Alte Musik und Nervenfieber

Kantig und laut beginnt die Ouvertüre. David Bates signalisiert schon in den ersten Takten statt eines harmonischen C-Dur die harschen Akzente von Glucks erster Reformoper. Raumwirkungen wie der elysäische Chor am Ende des zweiten Aktes vom obersten Rang sind ohne Rücksicht auf mildere Idealvorstellungen im Höchstmaß verdichtet. Der dritte Akt beginnt panisch, ohne Atemsekunde. Mit Extremen der Klangschärfungen und Extremen der Affektverdichtung steigert Bates die geniale Partitur zum Thriller. Der Mythos vom Sänger, der trotz des Gangs in die Unterwelt seine Gattin an den Tod verliert, erhält durch Bates‘ historisch informierte Gewaltbereitschaft eine zutiefst menschliche Wahrhaftigkeit. Aus der Unnachgiebigkeit erlösen nur wenige liebliche Minuten wie Orfeos „Che puro Ciel“. Dieses Musizieren ist die legitimierende Grundlage dafür, dass die säkulare Sicht von Damiano Michieletto noch eindrucksvoller wird. Sogar im Happy End sitzt ein Stachel, wenn auch nicht der des Todes.

Szenenbild aus „Orfeo ed Euridice“
Szenenbild aus „Orfeo ed Euridice“

Euridices Ehefrust

Wie in seinen besten Arbeiten packt Michieletto das Publikum an den ungeschützten Nervenenden seiner Empfindungskondition. Das erinnert an Massenets „Cendrillon“, die Michieletto an der Komischen Oper zu einer ans Bett gefesselten Tänzerin machte oder an seine Frankfurter Inszenierung von Schrekers „Der ferne Klang“, in der ein hinfälliges altes Paar mit schmerzender Sehnsucht den Emotionstollheiten seiner Jugend nachtrauert. Michieletto will auch bei „Orfeo“ statt historisierender Rekonstruktion die unmittelbare Relevanz. Das gelingt ihm mit einer auf den ersten Blick kühlen und den zweiten zutiefst ehrlichen Poesie. Nicht ein Schlangenbiss zerstört die arkadische Harmonie Orfeos und Euridices, sondern Kommunikationsstarre und Frust. Die größte Liebe muss vereisen in der Kälte von Paolo Fantins weißem Interieur. Orfeos Koffer ist gepackt, der Dialog am gleißend leeren Tisch verstummt. Ein Unfall oder Selbstmordversuch treibt Euridice in die Klinik und Orfeo in die Selbstbefragung. Bipolare Gedanken jagen ihn in die Unterwelt seiner Psyche und zu schwarzen gesichtslosen Wesen. Diese amorphe Furiensphäre ist das Gegenteil einer Zivilisation, die funktionierende Gefühle will und keine tiefen.

Der lange Weg zu zweit spitzt sich im dritten Akt noch weiter zu, wenn Gluck Euridice endlich zu singen erlaubt: Im großen Rezitativ der Entzweiten lässt sich Bates eine quälend lange Zeit und entfesselt das gefühlt massivste Ehestreitgespräch des 18. Jahrhunderts. Aber Amor – der Gammler, der Revuestar, der Zauberer – richtet alles. Ein kräftiger Wasserguss beruhigt die erhitzten Gemüter und stiftet endlich Ehefrieden. Immer wieder wird sich Orfeo fragen, welche der vier Euridice-Figuren denn die echte ist. Auch für das Publikum sehen sich die Sängerin und drei Tänzerinnen täuschend ähnlich. Zudem ist Nadja Mchantaf als dunkel tönende und fast dramatische Sängerin voll auf der Höhe für die gar nicht so einfache Choreografie Thomas Wilhelms. Sie und Josefine Mindus als Amor sind für die beiden Sopranpartien Glucks mehr als glitzerndes Stimmgelichter im Tross des dominierenden Orfeo. Bates lässt scharfumrissene und damit die Härte-Invasion seiner Gestaltung nicht mildernde Koloraturen und Verzierungen zu.

Szenenbild aus „Orfeo ed Euridice“
Szenenbild aus „Orfeo ed Euridice“

Der ideale Orfeo

Zentrum dieser intensiven 90 Minuten aus Feuer und Eis ist trotzdem Carlo Vistoli als Orfeo. Seine Stimme stammt aus dem Reich der zum Sterben schön singenden Sirenen. Vistoli klingt viril und trotzdem mit hypnotischer Weichheit, die in den ersten Klagerufen auch bitter wird. Trotzdem ist er an keiner Stelle dominant oder extrovertiert. Fast verhalten kommen die Strophen der Furienszene. Sogar im berühmten „Che farò senza Euridice“ will Vistoli das Gehör nicht purifizierend sättigen. Dafür erregt er mit der außerordentlichen Mixtur von Kreatürlichkeit und Kalkül schier unstillbaren Hörhunger. Er ist der „Orpheus redivivus“. Das Trampeln, Pfeifen und Jubeln musste Kosky mit seiner kurzen Dankesrede mit glücklicher Strenge unterbrechen: Die sechste Premiere ohne Coronafall!

Komische Oper Berlin
Gluck: Orfeo ed Euridice (Orpheus und Eurydike)

David Bates (Leitung), Damiano Michieletto (Regie),Thomas Wilhelm (Choreographie), Paolo Fantin (Bühne), Klaus Bruns(Kostüme), Simon Berger (Dramaturgie), David Cavelius (Chor), Alessandro Carletti (Licht) – Carlo Vistoli (Orfeo), Nadja Mchantaf(Euridice), Josefine Mindus (Amore), Martina Borroni, ClaudiaGreco, Ana Dordevic, (Tänzerinnen), Vocalconsort Berlin, Orchesterder Komischen Oper Berlin

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