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Ballett-Kritik: Landestheater Eisenach – Giselle

Erotisches Martyrium im Märchenwald

(Eisenach, 23.10.2022) Der romantische Klassiker „Giselle“ gelingt am Landestheater Eisenach, wie es sein muss – als berührendes Märchen, veredelt mit hohem Können und bemerkenswerter Einfühlsamkeit. Andris Plucis wählt für den Meilenstein der Tanzgeschichte einen klugen Zugang zwischen Respekt und Anpassung der Rollenmuster des 19. Jahrhunderts an die Gegenwart.

vonRoland H. Dippel,

Es geht auch mit acht Frauen statt 24 und auf einer kleineren Bühne. Sofern man kein Anhänger der revolutionären Neudeutung von Mats Ek ist, sind Idealvorstellungen von Adolphe Adams „Giselle“ annähernd kompromisslos in den Köpfen betoniert. „Giselle“, uraufgeführt 1841 an der Pariser Oper mit Carlotta Grisi in der Choreographie von Jules Perrot, ist eines der ersten romantischen Ballette mit einem sogenannten „weißen Akt“. Es bedeutet den nicht einmal von Tschaikowskys und Marius Petipas „Schwanensee“ übertroffenen Höhepunkt des Genres. Wenn das verstorbene Bauernmädchen Giselle nach ihrem Tod zu einer Willi wird und den sie in Unehre und Wahnsinn stürzenden Prinz Albrecht zu Tode tanzen muss, ihn aber trotzdem retten will, ist das ganz großes Seelendrama durch Spitzentanz. Oder aus Perspektive des 21. Jahrhunderts ein statt ins pralle Leben in die metaphysische Transzendenz gleitendes Entwicklungsdrama, dessen Lebenskraft jetzt Andris Plucis mit dem Ballett des Landestheaters Eisenach unter Beweis stellt.

Szenenbild aus „Giselle“ am Landestheater Eisenach
Szenenbild aus „Giselle“ am Landestheater Eisenach

Keine Liebeserfüllung ohne Schmerz

Der Kompaniedirektor tanzte in Frankfurt früher häufig den in Giselle unglücklich verliebten Wildhüter Hilarion und kennt den Klassiker dadurch gründlich. Seine Einrichtung verläuft auf drei Ebenen. Das Szenarium des Ur-Librettos von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Théophile Gautier sowie dessen Verteilung in die Musiknummern behält er überwiegend bei. Die Bewegungen und Figuren bereichert er darüber hinaus mit einem psychologischen Input und dem, was sich vom 19. über das 20. Jahrhundert an Veränderungen geschlechtlicher Rollenmuster getan hat. So erfolgt bei Plucis ein Schlagabtausch der sich nach ihrer seelischen Verletzung in Standesdünkel flüchtenden Bathilda (Elena Zanato) und der ihr rangmäßig unterlegenen Nebenbuhlerin Giselle. Während die Willis im 19. Jahrhundert ihr Terrain im dunklen Wald als verführerisches Frauenbataillon an einem einsamen Grab behaupteten, erscheinen bei Plucis auch ihre unterirdisch bestraften Schänder. Keine Liebeserfüllung ohne Schmerz lautet die Botschaft seiner Choreografie, während in der Traumfabrik Ballett des 19. Jahrhunderts der lange, unstillbare Schmerz mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erst dem meist nur kurzen, flüchtigen Glück folgt.

Szenenbild aus „Giselle“ am Landestheater Eisenach
Szenenbild aus „Giselle“ am Landestheater Eisenach

Aus Adolphe Adams Partitur wird das, wenn Dirigierende keine Ängste vor den bedrängend süßen Holzbläser-Harmonien und anderen Lieblichkeiten haben, zu betörendem Klang. Der schaurige Waldplatz wird zum Schauplatz erotischer Martyrien und dunkler Qual. Von früheren Zärtlichkeiten bleiben auf der Bühne des schönen Eisenacher Rangtheaters kalte, erzwungene Leidenschaften mit gespreizten Beinen und verzweifelten Bissen. Bei Plucis gerät diese Szene der Willis mit den Schatten ihrer herbeigezwungenen Männer zum Höhepunkt und fast noch eindringlicher als der berühmte Pas de deux zur letzten Begegnung Giselles und Albrechts. Erst mit dem allerletzten Akkord löst sich Giselle von Albrecht. Plucis dehnt diesen Augenblick, als wolle er seinem Publikum das harte und bei ihm keineswegs läuternd-versöhnliche Ende ersparen. Adson Lipaus Zocca als Albrecht darf die berühmten 30 entrechats six und Sprünge tanzen. Um Plucis‘ wenige Aneignungen aus der Choreographie Petipas findet das Eisenacher Ballett zu einer langen Reihe intensiver und bewegender Momente, weil es zu diesem Meilenstein der Tanzgeschichte einen respektvollen und deshalb klugen Zugang wählt.

Giselle liest und trägt Brille.

Szenenbild aus „Giselle“ am Landestheater Eisenach
Szenenbild aus „Giselle“ am Landestheater Eisenach

Traditionelle Mittel nutzt die Bühnenmalerin Betty Otto bei ihrer ersten Ausstattung. In Türkis schimmert der nächtliche Wald mit seinen vereisenden Astkronen. Hinter den pastoralen Szenen des ersten Aktes sieht man in Erdfarben Kirche und Häuser wie von Lyonel Feininger bei seinen Thüringer Raderkundungen gemalt — nur in sanften Erdtönen statt in Farbe. Die Kostüme von Danielle Jost sind mit ihren schonstrengen Schnitten und kräftigen Farben eine Reverenz an Inszenierungen von Märchenadaptionen Jean Cocteaus und von Jean Giraudoux. „Giselle“ wird auch dramaturgisch geschärft, weil Plucis‘ Mädchenfiguren weitaus mehr als naive und willfährige Wesen sind. Giselle liest und trägt Brille. Sie weiß also, wen sie sich aussucht, und ist trotzdem so blind, dass sie Albrecht nicht als Eindringling erkennt. Erst im zweiten Teil tanzen sie und die Kompanie auf Spitze. Während im Original Giselle schon in den pastoralen Szenenschwerelos in den Wahnsinn gleitet, klafft bei Plucis ein drastischer Bruch zwischen der Realität des ersten und den Albvisionen des zweiten Aktes. Das gibt Cara Verschraegen in der Titelpartie auch Gelegenheit zur intensiven Verdichtung von Charakter und Situationen. Ganz weich und äußerst intensiv macht sie das. Die Wandlungen der blutjungen Figuren in erotische Mündigkeit wird zum hintergründigen Thema von Plucis‘ Lesart. Sogar bei Paul Kennys Hilarion, der hier kein jähzorniger Kerl ist und deshalb weitaus besser zu Giselle passen würde als Albrecht. Immer wieder erlebt man intensive pantomimische Momente.

Die Eisenacher Kompanie macht optimalen Eindruck.

Szenenbild aus „Giselle“ am Landestheater Eisenach
Szenenbild aus „Giselle“ am Landestheater Eisenach

Wie schon bei Johann Christian Bachs „La clemenza di Scipione“ vor einem Jahr erweist sich die Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach als prägnantes und agiles Theaterorchester. In ersten Teil nimmt Markus Huber die Vorhalte in den „Souvenirs de Ratisbonne“ mit fast karikierender Überzeichnung und eröffnet im Weißen Akt den Zugang in die ganz andere musikalische Welt der lyrisch pulsierenden Poesie. Dem Orchester gelingt es, die aufgrund der Choreografie mitunter sehr gedehnten Tempi in Fluss und Spannung zu halten. Insgesamt macht die Eisenacher Kompanie optimalen Eindruck. Präzise und dabei unprätenziös, dramatisch präsent und mit sensibler Akkuratesse gestaltet sie „Giselle“ mit Sinn für die pittoresken und sensitiven Valeurs. Bei Plucis bekommen Kompaniemitglieder so viel solistisches Material wie möglich. In zweiten Teil holen alle zu einem bemerkenswert deutlichen und dennoch verzaubernden Finale aus. „Giselle“ gelingt am Landestheater Eisenach, wie es sein muss – als romantisches und berührendes Märchen, veredelt mit hohem Können und bemerkenswerter Einfühlsamkeit.

Landestheater Eisenach
Adam: Giselle

Andris Plucis (Choreografie), Verónica Villar Galaz (Trainingsleitung), Markus Huber (Musikalische Leitung), Betty Otto (Bühne), Danielle Jost (Kostüme), Cara Verschraegen / Verônica Vasconcelos Da Silva, Adson Lipaus Zocca / Joadson C. Sousa, Paul Kenny / Renaud Thomas Garros, Elena Zanato / Lucia Giarratana, Ballett des Landestheaters Eisenach, Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach

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