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Opern-Kritik: Opernfestspiele Heidenheim – Gianni Schicchi / Elektra

Zwei schreckliche Familien

(Heidenheim, 18.7.2025) Ein so noch nie dagewesenes Einakter-Doppel von Puccini („Gianni Schicchi“) und Strauss („Elektra“) bringt bei den Opernfestspielen Heidenheim Komisches und Tragisches einer fatalen Familienaufstellung höchst wirkungsvoll zusammen.

vonPeter Krause,

Eine schreckliche Familie feiert den Geburtstag ihres verstorbenen Patriarchen und demonstriert beim Erben ihre kollektive Geldgeilheit. Eine noch schrecklichere und seit Generationen gewalttätige Familie umlauert einander, und deren Mitglieder trachten einander nach dem Leben. Offiziell heißt das Motto der Opernfestspiele Heidenheim in diesem Jahr zwar „Lachen und Weinen“, was zu Giacomo Puccinis krachendem Komödieneinakter „Gianni Schicchi“ und Richard Strauss‘ bluttriefender Antikenanverwandlung „Elektra“ perfekt passt. Doch sogar inhaltlich sind die Bezüge zwischen dem 1918 in New York uraufgeführten Satyrspiel und dem 1909 in Dresden aus der Taufe gehobenen mythologisch-modernen Trauerspiel mindestens verblüffend: Eine kranke Familie steht jeweils im Mittelpunkt. Müsste es nach althergebrachten dramaturgischen Regeln freilich mit dem Weinen und der Erschütterung über all die menschlichen Abgründe losgehen, worauf dann darauf – Shakespeare lehrte es – als „comic relief“ das Lachen folgt, ist die Reihenfolge auf der Schwäbischen Alb genau umgekehrt: erst die Komödie, dann die Tragödie.

Szenenbild aus „Gianni Schicchi“ bei den Opernfestspielen Heidenheim
Szenenbild aus „Gianni Schicchi“ bei den Opernfestspielen Heidenheim

„Geld macht geil“

Der traditionell als letzter Teil von Puccinis „Il Trittico“ gezeigte „Gianni Schicchi“ eröffnet den Abend drinnen im Festspielhaus. Regisseurin Vera Nemirova hat sich für das furiose Erbschleicher-Kabinettstückchen einen köstlichen Twist ausgedacht und damit der Familienbande als heimlicher thematischer Brücke zwischen beiden Werken einen köstlichen Doppelsinn verliehen. Denn: Die Familie des reichen Buoso Donati eine üble Bande zu nennen, gliche einer gelinden Untertreibung. Getreu der Erkenntnis „Geld macht geil“ stellt sie sexuelle Spiel- und Abarten aller Arten in den Mittelpunkt ihrer Inszenierung. Die beginnen just beim Erblasser selbst, der – im Alter einsam geworden – als Vorspiel auf dem Theater seinen Geburtstag ganz allein feiern will, das italienische „Happy Birthday“ somit als an sich selbst gerichteten Glückwunsch umformuliert: „Tanti auguri a me“. An seinem Krankenbett sind Werkzeuge angebracht, die der Realisierung seiner spezifischen sexuellen Neigungen ebenso dienlich sein könnten, wie sie seine Gebrechen lindern sollten. Buoso Donati verfasst sein Testament – und bricht am Geburtstagstisch, so scheint es, tot zusammen. Da trifft nun die sonst durch Abwesenheit glänzende Familie ein, betrauert den Verlust scheinheilig und macht sich auf die Suche nach dem letzten Willen. Als jener entdeckt wird, entpuppt er sich freilich als maximale Enttäuschung: Das Familienoberhaupt hat sein Vermögen in Gänze einem Kloster vermacht.

Szenenbild aus „Gianni Schicchi“ bei den Opernfestspielen Heidenheim
Szenenbild aus „Gianni Schicchi“ bei den Opernfestspielen Heidenheim

Liebesgunst für Erbmasse

Für Abhilfe kann da nur der gewitzte Outsider Gianni Schicchi (Bassbariton Rory Musgrave) sorgen: Vor dem eilig herbeigerufenen Notar gibt er sich als sterbenskranker Buoso aus, diktiert dessen Testament neu, speist die Verwandten mit wenig Wertvollem ab, bedenkt sich selbst mit den Filetstücken des Vermögens als „liebster Freund“ des von ihm gespielten Verstorbenen. Zuvor hatten all die Mitglieder der diversen Verwandtschaft den seinerseits sexuell dominanten Schicchi durch eindeutig zweideutige Angebote von Liebesgunst zu überzeugen gesucht, doch tunlichst nur ihnen den Löwenanteil der Erbmasse zuzusprechen. Man macht sich nacheinander frei von zu viel Kleidung.

Szenenbild aus „Gianni Schicchi“ bei den Opernfestspielen Heidenheim
Szenenbild aus „Gianni Schicchi“ bei den Opernfestspielen Heidenheim

Meisterinnenhaftes Komödientiming

Als Meisterin des komödiantischen Timing lässt Vera Nemirova diese Farce bis zur Schlusspointe abschnurren, zu der Buoso quicklebendig in das Haus seines wirklich besonders guten Freundes Schicchi zurückkehrt: Die beiden älteren Herren sind ein schwules Paar, können nun endlich von der heteronormativen Verwandtschaft ungestört ihren sexuellen Präferenzen nachgehen. Köstlich hat Kostümbildnerin Cristina Lelli dazu die Personnage zwischen Flower Power, Sado Maso, Gothic und Spießigkeit eingekleidet. Und Marcus Bosch am Pult der Stuttgarter Philharmoniker schärft das szenische Komödienhandwerk mit pointiert herausgemeißelten kleinen Motiven, scharfer Artikulation und unsentimental sprechenden Motiven. Das hohe szenische Tempo mit einem entfesselt singschauspielenden Ensemble findet seine Entsprechung im hohen musikalischen Drive. Und Puccinis scharfzüngige Komödie entpuppt sich als kleine Schwester von Verdis „Falstaff“. Man merkt, wie viel Selbstironie sich beide Komponisten da mit dem eigenen dramatisch- ernsthaften Schaffen erlauben. Da wird Puccinis „comic relief“ also zur Grundlage für ein Neuhören der nachfolgenden „Elektra“, zu der ein „Agamemnon“ skandierender und Beile schwingender Sprechchor das Publikum vom Festspielhaus in den nahen Rittersaal der stimmungsstarken Burgruine Hellenstein auf dem Schlossberg von Heidenheim geleitet.

Szenenbild aus „Elektra“ bei den Opernfestspielen Heidenheim
Szenenbild aus „Elektra“ bei den Opernfestspielen Heidenheim

Singende Skulpturen wie aus der griechischen Antike

Nun treibt die zweite schreckliche Familie ihr Unwesen. Elektra, die um ihren ermordeten Vater Agamemnon trauert, reinigt in sich gekehrt und hingebungsvoll jene Steine, die das Beil bedecken, mit dem ihr Vater einst in jener grauslichen alten Badewanne geschlachtet wurde, die am rechten Bühnenrand steht. Der rote Bühnenboden kündet vom „ewigen Blut“, das hier vergossen wurde und immer wieder wird. Christian Libor pendelt als nachgerade skulptural konzentrierte Elektra von den beiden Polen, ihrem zum Altar der Erinnerung gewordenen Steinhaufen, um den herum sie weiße Grablichter für den Vater entzündet, zum Mordort der Badewanne, in den sie den Soldatenmantel des Vaters bettet und dann auch ihre ganz dem Leben zugewandte und von Kindern träumende Schwester als erhoffte Komplizin der Rache hineinzwingt. Nemirova arbeitet mit einfachen und empathischen Bildern, die in der Titelfigur nicht die verblendete Rächerin zeigen, sondern das Mitleid erregende arme Geschöpf, das in der eigenen Trauer erstarrt. Vielsagende Blicke ersetzen in ihrer Regie den sonst üblichen Aktionismus. Die Figuren nehmen sich vor der unter freiem Himmel eindrucksvoll aufragenden Rückwand des Rittersaals wie direkt dem Mythos entsprungene Verkörperungen griechischer Göttinnen aus. Harald B. Thor musste für sein Bühnenbild denn auch nur einzelne Akzente setzen: Der Spielort der Burg Hellenstein wird ganz natürlich zum Palast von Mykene. Der Turm hinter der Publikumstribüne könnte fraglos jenes Verließ sein, in das nach Chrysothemis‘ Worten ihre Schwester bei weiterem Ungehorsam gesteckt werden könnte.

Szenenbild aus „Elektra“ bei den Opernfestspielen Heidenheim
Szenenbild aus „Elektra“ bei den Opernfestspielen Heidenheim

Hochspannende Neujustierung der nie nur düster depressiven Partitur

Wo die Regisseurin an unser Mitfühlen mit der Titelfigur appelliert und auch ihr Team – Marie-Luise Strandt schuf einst die Kostüme der legendären „Elektra”-Inszenierung von Ruth Berghaus in Dresden – an die Überzeitlichkeit der im Stück verhandelten Traumata setzt, da bewirkt Festspielintendant Marcus Bosch mit den Stuttgarter Philharmonikern die hochspannende Neujustierung der sonst gern nur auf die denkbar düsteren Depressionsfarben reduzierten Partitur. Unter seiner straff-strengen Stabführung, die falsches Sentiment so sehr meidet wie überschwellende Agogik, klingt dieser hochmoderne Richard Strauss so schlank, so seidig und so tänzerisch, dass man immer wieder merkt, dass der Münchner Meister eben auch der Schöpfer des „Rosenkavalier” ist. Die am Sprechtempo orientierten zügigen Tempi (verbunden mit einer exquisiten Textverständlichkeit sogar in der Mägdeszene des Beginns) machen diese „Elektra“ nicht nur zum Konversationsstück, sie bewirken auch, dass herrlich helle Hoffnungsmomente neben den freudianischen Abgründen auftauchen: Boschs „Elektra” ist nicht nur der verbitterte Rachetanz der Titelfigur. Der gleichsam dramaturgisch dirigierende Festspielintendant zeigt auch, dass Strauss sehr wohl Wege aus der Wiederkehr von Gewalt und Gegengewalt aufscheinen lässt.

Natürlich steht die leuchtende kleine Schwester Elektras für diese Gegenwelt – Tineke van Ingelgem singt und spielt Chrysothemis mit berückendem Sopranstrahlen. Doch auch für Elektra selbst, die am Ende über die Stufen der Zuschauertribüne ins Offene aufbricht, könnte es den rechten Moment der Emanzipation geben. Selbst die grandiose Mezzosopranistin Kateřina Hebelková als albträumende Klytämnestra ist mehr und anderes als Mitglied einer schrecklichen Familie. Auch Mörderinnen verdienen eine zweite Chance, die ihr freilich durch Orestes Rachetat verwehrt bleibt. Welch ein großer berührender Festspielabend auf der Schwäbischen Alb.

Opernfestspiele Heidenheim
Puccini: Gianni Schicchi / R. Strauss: Elektra

Marcus Bosch (Leitung), Vera Nemirova (Regie), Harald B. Thor (Bühne), Cristima Lelli & Marie-Luise Strandt (Kostüme), Hartmut Litzinger (Licht), Stephan Knies (Dramaturgie), Oliver von Fürich, Rory Musgrave, Ava Dodd, Julia Rutigliano, Stefan Cifolelli, Tobias Völklein, Tineke van Ingelgem, Viacheslav Strelkov, Thomas Gazheli, Daniel Di Prinzio, Kateřina Hebelková, Rory Dunne, Christiane Libor, Katja Maderer, Theresa Maria Romes, Jared Ice, Katja Maderer, Ariana Lucas, Marie-Luise Dreßen, Julia Danz, Stuttgarter Philharmoniker


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