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Opern-Kritik: Ruhrtriennale – D · I · E

Mitten im Hurrikan der Künste

(Duisburg, 2.9.2021) Die Uraufführung „D • I • E“ gipfelt in einem Gesamtkunstwerk der experimentell heterogenen Art, Dirigent Titus Engel hält dazu genialisch die Fäden zusammen.

vonRoberto Becker,

Bei der zweiten gewichtigen Musiktheaterproduktion des laufenden Jahrgangs der Ruhrtriennale sind der Ort und die Namen auch schon das Programm: „D • I • E von Michael Wertmüller, Albert Oehlen und Rainald Goetz“. Der Aufführungsort der von der Ruhrtriennale in Auftrag gegebenen Uraufführung ist die Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord. Einer jener ausgedienten Industriekathedralen, die langsam ihre postindustriell kulturelle Nachnutzung angenommen haben und das auch wieder ausstrahlen. Selbst, wenn das Treiben drumherum auch dort coronagebremst ist. Die riesige Halle wir voll bespielt. Für die „holografische Musikvisualisierng“ (wie es ambitioniert, aber treffend heißt) hat Thomas Stammer zehn Leinwandsegel für die Projektionen an den vier Wänden des Saalrechtecks verteilt. Davor: Laufstege und Podeste für die fünf Protagonistinnen (tatsächlich mit kleinem i) und die Musiker. Die Zuschauer sind im Saal verteilt auf Drehstühlen platziert – was nicht nur die Möglichkeit zum Rundumblick garantiert und Abstände sichert. Es ermöglicht dem jungen Aufsichtspersonal zudem, gegen jeden inkorrekten Maskensitz auch während der Vorstellung sofort einzuschreiten. Mit solchem Eifer übrigens, dass man sich schon fragt, ob da nicht ein Mentalitätsdefekt zum Vorschein kommt, der – hochgerechnet – eher verunsichert als beruhigt. Mitten im Saal und zwischen den Zuschauern ist Dirigent Titus Engel platziert – er ist sozusagen das ruhige, sprich koordinierende Auge im Zentrum eines Hurrikans entfesselter Künste.

Szenenbild aus „D · I · E”
Szenenbild aus „D · I · E”

Abstrakte Realität ist anstrengend, aber packend

Die anderthalb Stunden auf dem Drehstuhl sind anstrengend, aber packend. Selbst, wenn einige klassisch naive Fragen, wie jene nach dem Inhalt oder einer erzählten Geschichte, offen bleiben. Selbst beim Titel kommt man nicht wirklich weit. Soll es das englische Sterben sein? Schwebt da ein feministisch auftrumpfender Artikel im Raum der Assoziationen? Oder eben einfach drei Versalien, die durch einen Punkt in halber Höhe getrennt oder auch verbunden sind? Der Textleitfaden für den Abend folgt dem 2010 erschienenen Künstlerbuch „D • I • E abstrakte realität“ mit einem Text von Rainald Goetz zu den Bildern von Albert Oehlen. Abstrakte Realität trifft ganz gut, was man erlebt. Es bleibt ein Widerspruch, der sich nur über die Assoziationen auflösen lässt, die jede der beteiligten Künste bei den Zuschauern auszulösen vermögen.

Szenenbild aus „D · I · E”
Szenenbild aus „D · I · E”

 Es zählt der Klang der Worte, nicht ihre Bedeutung

Rainald Goetz, Jahrgang 1954, einer der bunten Wort-Vögel der Republik, hat eine Collage aus Vokabeln verfertigt, sie mit Überschriften versehen und von 1. („villa beau rivage“) bis 14. („die letzte 2“) durchnummeriert. Dazwischen gibt es Wortsammlungen, die mit „objekte des Geschehens“, „die teesieb notationen“ oder „das reale“ überschrieben sind. Wobei die versammelten Worte nicht unbedingt die Verbindung zu ihrer Überschrift zu erkennen geben. Was aber auch nicht weiter schlimm ist, da es sowieso eher um ihren Klang, ihre Musikalität geht, als um ihre Bedeutung für den kunstaffinen Alltagsmenschen von heute. Die Regisseurin Anika Rutkofsky lässt die beiden Sopranistinnen Caroline Melzer und Sarah Pagin sowie ihre Mezzokollegin Christina Daletska, aber auch die Rapperin Catnapp effektvoll sinnlich packende Stimmakrobatik beisteuern. ◀️Schauspielerin Sylvie Rohrer, in einem feuerroten Kleid, das wie von einem Otto Dix Porträt inspiriert wirkt (Ute Gruber-Ballehr hat auch für die drei Sängerinnen mit zeitlos eleganter Kostüm-Modernität nicht gegeizt), ist als Conferencière angekündigt. Und tatsächlich bietet sie so etwas ähnliches, setzt aber auch bei ihren Wortbeiträgen auf die Musikalität der Sprache. Selbst, wenn sie schwebt und sich dabei selbst überschlägt. Gegen Ende verdoppelt sie sich in einer Projektion ihrer selbst, die ins Riesenhafte wächst, das Original jagt und schließlich verschlingt.

Szenenbild aus „D · I · E”
Szenenbild aus „D · I · E”

Musikalischer Stilmix

Für seine Musik hat der 1966 geborene Schweizer Schlagzeuger und Komponist Michael Wertmüller sich nicht nur in allen möglichen Stilen, vom Streichquartett bis zum Rock, bedient; er bietet für seinen Stilmix auch die jeweiligen Interpreten auf. Titus Engel gelingt es tatsächlich, so verschiedene Musikanten wie die weit voneinander platzierten Musiker von Steamboat Switzerland, dem Asasello Quartett, Jealous und Camille Emaille auf einen gemeinsamen, raumfüllenden Nenner zu bringen. Komplettiert wird dieses Gesamtkunstwerk der experimentellen Art durch die holographische Visualisierung von Albert Oehlens Abstraktionen, die noch jeder musikalischen Wendung, Explosion, Verlangsamung oder Beschleunigung eine optische Entsprechung liefert. Lebende, sich verändernde Abstraktionen nach dem Motto „zum Bild wird hier der Klang“. Oder umgekehrt? Das mag jeder sehen, wie er will. Ganz so, wie auch den Zusammenhang mit der Wortcollage.

Ruhrtriennale im Landschaftspark Duisburg
Wertmüller / Oehlen / Goetz:  D • I • E

Michael Wertmüller (Komposition), Albert Oehlen (Bild), Rainald Goetz (Text), Titus Engel (Leitung), Anika Rutkofsky (Regie), Thomas Stammer (Holografische Musikvisualisierung), Uta Gruber-Ballehr (Kostüme), Daniel Dalfovo (Creative Coding), Tim Markgraf (3D-Animation), Thomas Wegner (Sound Design), Dietrich Körner (Licht), Johanna Danhauser & Barbara Eckle (Dramaturgie), Caroline Melzer & Sarah Pagin (Sopran), Christina Daletska (Mezzosopran), Sylvie Rohrer (Conferencière), Vocals Catnapp, Steamboat Switzerland, Asasello Quartett, Camille Emaille, Jealous (Musik)

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