Opern-Kritik: Semperoper Dresden – Die andere Frau

Menschliche Wesen mit göttlichem Auftrag

(Dresden, 22.1.2022) Die Semperoper schlägt mit der Uraufführung von Torsten Rasch einen maximal gespannten Bogen vom Alten Testament in die Gegenwart.

© Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Magdalena Anna Hofmann (Sarai), Markus Marquardt (Abram)

Schier endlos scheint der Tross von Flüchtlingen, Gedemütigten und Heimatlosen zu sein, der sich über den von ausgelatschten Schuhen gepflasterten Steg an der Bühnenrampe von Ägypten nach Kanaan zieht. Direkt davor, selbst auf der Bühne, sitzt das Publikum in der Semperoper. Sie hebt damit innerhalb einer Woche gleich das zweite zeitgenössische Stück auf den Spielplan – und diesmal ist es sogar eine Uraufführung. Torsten Raschs große Oper „Die andere Frau“ war schon für den Sommer 2020 von der Sächsischen Staatsoper in Auftrag gegeben worden; nach den pandemiebedingten Zwangsschließungen durfte die Premiere nun endlich stattfinden.

Heutige menschliche Zwänge, Ängste und Hoffnungen

Zwar bildet die biblische Erzählung des Urvaters Abraham als Stifter von drei Weltreligionen die Grundlage für die Dreiecksgeschichte zwischen Abraham, seiner Frau Sarai und beider Sklavin Hagar, die als Leihmutter für die neue Dynastie herhalten soll. Am beeindruckendsten ist das Stück aber, wenn es – unbeschwert vom Gewicht der alttestamentarischen Abstraktion – von grundlegend heutigen menschlichen Zwängen, Ängsten und Hoffnungen erzählt.

Stammvater Abraham

© Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Markus Marquardt (Abram)

Markus Marquardt (Abram)

Da steht auf der einen Seite Abraham, der sich für auserwählt hält und damit jede Verantwortung für sein Handeln mit dem lapidaren Hinweis abweist, es sei nötig oder gottgewollt gewesen; daneben Sarai, die selbst keine Kinder mehr gebären kann und deswegen ihrem Mann die Sklavin zur Fortpflanzung empfiehlt, dies aber gleich wieder aus Eifersucht bereut; zum dritten, und das ist sicher die spannendste Figur, entwickelt sich Hagar von der Befehlsempfängerin zur selbstbewussten Frau, die in Abrahams Nachkomme Ishmael ihren eigenen Sohn verteidigt, obwohl sie bisher nur als Amme und damit dienstleistendes Objekt missbraucht wurde.

Märchenhafte Handlungsumschwünge von Himmels Gnaden

Dieses Kammerspiel, von kleinsten Gesten, Blicken, musikalischen Gedanken getragen, könnte sich genauso gut auch in einem heutigen Flüchtlingslager abspielen. Für diese Assoziation sorgt auch die sehr heutige Sprache Helmut Kraussers, die in seltsamem Widerspruch zur historischen Grundierung steht und unter Modernitätsdruck nicht frei von Banalitäten und manch verzichtbarer Ungeschicklichkeit ist. Nichtsdestoweniger lässt Kraussers Libretto die biblische Geschichte dafür besonders realitätsnah und verständlich erscheinen, auch wenn so wiederum Gottes höchstpersönliche Einflussnahme auf die Handlung – intoniert von drei Engeln und zwei Chören – nicht erklärt werden kann. Denn diese gewissermaßen märchenhaften Handlungsumschwünge von Himmels Gnaden wollen nicht so recht zur zeitlosen Reportage über reale Alltagskonflikte passen.

Historienepos und Neuzeitporträt

© Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Stephanie Atanasov (Hagar), Sinfoniechor Dresden/AuditivVokal Dresden

Torsten Raschs Vertonung gleicht indes die latente Widersprüchlichkeit zwischen Historienepos und Neuzeitporträt mit Leichtigkeit aus. Man merkt seiner Musiksprache an, dass sie durchaus an großen Vorbildern des Fin de siècle wie auch am Kino geschult ist. Seine Gesangsparts sind für die Solisten atemberaubend sportlich gesetzt, doch dafür vereinfacht ihre weithin syllabische Anlage ungemein das Textverständnis. Das riesige Orchester – es sitzt vom Publikum aus gesehen hinter dem Bühnengeschehen im Graben und damit vor den leeren Zuschauerrängen – weiß mit gut wiederzuerkennenden Motiven sowohl Ereignisse als auch Personen zu charakterisieren. Die Sächsische Staatskapelle unter dem Hallenser Chefdirigenten Michael Wendeberg leistet dafür wie zu erwarten echte Präzisionsarbeit: ob im brachialen Blech, mit flirrenden, eng gesetzten Streichern, bissfestem Schlagwerk oder im rhythmisch abenteuerlich dahingaloppierenden Holzbläser-Stakkato.

Stimmlich wie szenisch überzeugt vor allem Magdalena Anna Hofmann, eingesprungen für die erkrankte Hausgröße Evelyn Herlitzius. Sie porträtiert die 90-jährige Gattin des selbsternannten Stammvaters ganz wunderbar differenziert, ja zerrissen: zwischen der Verantwortung für die Fortschreibung der Geschichte einerseits, dem Schmerz über die eigene Kinderlosigkeit und Eifersucht andererseits. Markus Marquandt gibt den Abraham mit erschütternder Sorglosigkeit und vollkommen frei von Pathos, womit seine aus heutiger Sicht schreiende Feigheit offenbar wird. Auch Stephanie Atanasov in der Titelpartie der „anderen Frau“ Hagar vollzieht szenisch wie stimmlich den Wandel von der devoten Dienstmagd zur gereiften Kindsmutter nach.

Orientalische „Augenzeugin“

Für westeuropäisch geprägte Opernhäuser ganz ungewohnte Akzente setzt dagegen die iranische Sängerin Sussan Deyhim, die zwischen den 20 Szenen als „Augenzeugin“ orientalisch anmutende Klagelieder über die Zerstörung der Stadt Ur – der Herkunft Abrahams – anstimmt. Diese reizvolle musikalische Farbe verweist auf die dritte Weltreligion, die sich auf Abraham als Stammvater beruft: den Islam.

Plakative Inszenierung

© Semperoper Dresden/Ludwig Olah

Sussan Deyhim (Die Augenzeugin)

Bei all diesem Reichtum an Assoziationen gerät die Uraufführung trotzdem nie über die Grenzen des Fassbaren hinaus, eher im Gegenteil kann sie sich plakativer Deutung nicht völlig entziehen. Der unendliche Flüchtlingsstrom, den Regisseur Immo Karaman stupid von rechts nach links mit der Komparserie inszeniert, darf zwar als bedrückendes Bild gelten, aber es nutzt sich innerhalb von 100 Minuten doch erheblich ab. Warum die Szenerie gedreht ist, erschließt sich nicht, ebenso wenig vermitteln László Zsolt Bordos‘ sphärische Videoanimationen, die sich über die leeren Ränge ergießen, irgendeine Botschaft. Dafür fokussieren sich Augen und Ohren umso mehr auf die Protagonisten, die göttlichen Aufträgen, wundersamen Ereignissen oder moralischen Überlegungen zum Trotz doch zuallererst das bleiben: menschliche Wesen – in all ihrer Unvollkommenheit.

Semperoper Dresden
Rasch: Die andere Frau

Michael Wendeberg (Leitung), Immo Karaman (Regie), Teresa Reiber (Co-Regie), Arne Walther (Bühne), Ariane Stamatescu (Mitarbeit Bühne), Anni-Josephine Enders (Kostüme), Christoph Schmädicke (Licht), László Zsolt Bordos / Bordos.Art.Works. (Video), Kai Weßler (Dramaturgie), Markus Marquardt, Magdalena Anna Hofmann, Annelie Sophie Müller, Philipp Mathmann, Philipp Meraner, Ilya Silchuk, Sussan Deyhim, Sinfoniechor Dresden – Extrachor der Semperoper Dresden, Sächsische Staatskapelle Dresden

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