Kaum ist der Schlussapplaus für Hans Abrahamsens „Snow Queen“ in der Semperoper verhallt, kaum ist wenigstens auf der Bühne die Eiseskälte in den Menschenherzen zu erwachsener Liebe dahingeschmolzen, schon geht es an der Garderobe wieder derb ans Eingemachte. Wie auf dem benachbarten Striezelmarkt werden im Gedränge rauer, wenngleich feingewandeter Ellbogen böse Blicke geworfen, liefern sich ungeduldige Ich-habe-mich-zuerst-angestellt-Überzeugte derbe, bissige Wortgefechte.

Braucht die Menschheit überhaupt böse Fabelwesen?
Unwillkürlich fragt man sich: Hat die Botschaft von Hans Christian Andersens wunderbarem Märchen nicht schon längst ausgedient? Ist der Triumph des Humanen über die mathematisch-starre Strenge des Schnees, der für Entfremdung steht, nicht schon immer eine Illusion gewesen? Braucht die Menschheit überhaupt böse Fabelwesen oder Herzen verhärtende Zauberspiegel, um sich selbst der größte Feind zu sein? Eigentlich ist es doch eine wundersame Fabel, wie Gerda ihrem Kay auf einem Roadtrip voller Abenteuer ins Reich der Kälte folgt, um dem entemotionalisierten Kinderfreund mit ihren Tränen die Humanität zurückzugeben. Sie braucht dafür keine beeindruckenden Zauberkräfte, nur Empathie auf ihrem Weg und zum Höhepunkt im Eispalast ihre eigene Warmherzigkeit, mit der sie die Seele des versteinerten Freundes wieder wachküsst. Dass sie dazwischen viel Mitleid auf ihrem Weg erntet, das sich nicht in Bedauern erschöpft, sondern Empathie hervorbringt, gehört zu einem der vielen eher unterschätzten Nebenaspekten der vielschichtigen Deutung von Andersens Original.

Es fröstelt und flirrt
Adaptionen der „Schneekönigin“ für die Bühne gibt es viele. Die musikalisch wie intellektuell aufwändigste Version hat wohl der dänische Komponist Hans Abrahamsen beigesteuert, dessen „Snow Queen“ 2019 in Kopenhagen auf Dänisch uraufgeführt und seitdem an einigen Theatern in ihrer englischen Fassung nachgespielt wurde. In Dresden nehmen sich Titus Engel am Pult der Staatskapelle und Regisseur Immo Karaman der Interpretation an, und die lässt von Anfang an ein frösteliges Gefühl zurück. Denn die mit viel Schlagwerk, Akkordeon und großem Blechbesteck dick instrumentierte, praktisch aber doch kammermusikalisch aufgebaute Oper ist eine Herausforderung für beide. Mit rhythmisch höchst komplexer, leise flirrende und fragile „Kälte“-Töne bevorzugender Musik, die an Ligeti geschult ist, verengt sich ihr dramaturgischer Horizont stark auf die Gegensätze der sommerlich warmen und der winterlich kalten Welten, deren interpretatorische Relevanz sich am Ende wiederum als unterkomplex herausstellt.

Das Erlösende der Menschwerdung kommt zu kurz
Das mag auch an Abrahamsens Faszination für den Klang von Schnee liegen, den er in mehreren seiner früheren Werke schon ausgelotet hat. Seine großspurig im Programmheft skizzierte, minutengenau austarierte und aus irgendeinem Grund symmetrische Szenenfolge atmet mehr den Duft der Kälte statt das Erlösende der Menschwerdung und verrät damit eher den rationalen Denker als den warmherzigen Geschichtenerzähler. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass manche Episoden übermaßstäblich ausgebreitet werden, etwa das nahezu funktionslose Krächzen der Krähen oder das Säuseln der Blumen, während andere Szenen in Sekundenschnelle abgehandelt werden. Ein organischer Handlungsverlauf ergibt sich so nicht, und es mangelt augenscheinlich an tieferen Motiven als dem, dass zwei Kinder auf abenteuerliche, aber distanzierte Weise erwachsen werden und ihre Füreinander-Bestimmtheit entdecken.

Ein Traum im Kinderzimmer
Dass die Regie die Geschichte als Traum im Kinderzimmer deutet, das sich kaleidoskopartig bis ans Ende der mit Bettgestellen und einem Schrank eher karg ausgestatteten Bühne (Arne Walther) aufspreizen lässt, ist bei der Personenführung keine große Hilfe. So bedient sich Immo Karaman nicht nur viel Fantasterei in der Kostümierung (Nicola Reichert), sondern wildert auch in der Tanz- und Komparserie-Abteilung: Ob Schneeflocken, Krähen oder Kinder – sie alle vervielfachen die Charaktere oder illustrieren die oft nur schlaglichtartig auftretenden Kreaturen. Erfahrbarer werden sie dadurch nicht. Die unentschieden wirkende Askese des Bühnengeschehens entwickelt keinen eigenen Reiz nur dadurch, von allerlei Tanzfiguren umwabert zu werden.

Hochkarätiges Ensemble
Dabei gibt sich das hochkarätige Ensemble – ebenfalls symmetrisch entworfen – alle Mühe, den Figuren Charakter zu verleihen. Gerade Dresdens Starbassist Georg Zeppenfeld hat aber kaum Gelegenheit, sich zu entfalten, weil sowohl seine Schneekönigin als auch sein Rentier und die Uhr kaum mehr als ein paar Minuten auftreten; genauso ergeht es Christa Mayer als Großmutter, alte Frau und Finnenfrau. Ihre Partien erschöpfen sich schnell, weil Abrahamsen nicht gerade viel Vertrauen in seine Figuren investiert. Er ordnet alles den vielfältigen musikalischen Schichten unter, deren reichlich akademisch begründete Verschachtelung oft nur ostinate oder repetitive Figuren zulässt.

Die Sächsische Staatskapelle wird zum Star des Abends
Dagegen dürfen Louise McClelland als Gerda und Valerie Eickhoff in der Hosenrolle des Kay „richtig“ singen und tun das – trotz der nur behaupteten Entwicklung ihrer Figuren – mit außerordentlicher Hingabe. Auch die Sächsische Staatskapelle bewältigt mit Bravour die irrwitzig schwere Partitur, die wegen ihrer Polyrhythmik zeitweilig sogar einen Co-Dirigenten braucht. Ihr gebührt am Schluss fast der meiste Applaus, doch schon in den kommenden Familienvorstellungen wird sich wohl Enttäuschung einstellen. Für Kinder ist diese „Snow Queen“ erst ab 15 Jahren empfohlen, und ob die daraus Genuss ziehen werden, ist durchaus zweifelhaft.
Semperoper Dresden
Abrahamsen: Die Schneekönigin
Titus Engel (Leitung), Immo Karaman (Regie), Arne Walther (Bühne), Nicola Reichert (Kostüme), Louise McClelland Jacobsen (Gerda), Valerie Eickhoff (Kay), Christa Mayer (Großmutter), Georg Zeppenfeld (Schneekönigin), Sächsische Staatskapelle Dresden
Mi., 10. Dezember 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Abrahamsen: The Snow Queen
Jessica Niles (Gerda), Valerie Eickhoff (Kay), Christa Mayer (Großmutter), Georg Zeppenfeld (Schneekönigin), Titus Engel (Leitung), Immo Karaman (Regie)
Do., 18. Dezember 2025 14:00 Uhr
Musiktheater
Abrahamsen: The Snow Queen
Jessica Niles (Gerda), Valerie Eickhoff (Kay), Christa Mayer (Großmutter), Georg Zeppenfeld (Schneekönigin), Titus Engel (Leitung), Immo Karaman (Regie)
Mo., 22. Dezember 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Abrahamsen: The Snow Queen
Jessica Niles (Gerda), Valerie Eickhoff (Kay), Christa Mayer (Großmutter), Georg Zeppenfeld (Schneekönigin), Titus Engel (Leitung), Immo Karaman (Regie)
Mo., 05. Januar 2026 19:00 Uhr
Musiktheater
Abrahamsen: The Snow Queen
Louise McClelland Jacobsen (Gerda), Valerie Eickhoff (Kay), Christa Mayer (Großmutter), Georg Zeppenfeld (Schneekönigin), Titus Engel (Leitung), Immo Karaman (Regie)
Do., 08. Januar 2026 19:00 Uhr
Musiktheater
Abrahamsen: The Snow Queen
Louise McClelland Jacobsen (Gerda), Valerie Eickhoff (Kay), Christa Mayer (Großmutter), Georg Zeppenfeld (Schneekönigin), Titus Engel (Leitung), Immo Karaman (Regie)




