Bernard Foccroulles Oper „Cassandra“ nach einem erfundenen Sujet des kanadischen Theatermachers Matthew Jocelyn wurde von der Uraufführung 2023 am Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie an die Berliner Staatsoper Unter den Linden übernommen und in einer eigenen musikalischen Einstudierung zur deutschen Erstaufführung gebracht. Foccroulle, der frühere Intendant der Oper Brüssel und der Festspiele Aix-en-Provence, ist dem Musiktheater ebenso intensiv verbunden wie dem Schaffen Johann Sebastian Bachs, dessen Orgelwerke der belgische Künstler in einer Gesamteinspielung vorlegte.
In seiner Partitur findet man aber statt formaler Architekturen eher eine sensibel geschärfte Genauigkeit für Stimmungen und menschliche Gereiztheiten. Nach 110 Minuten, in denen Gruppen des Staatsopernchors aus dem Zuschauerraum inszeniertes Missfallen artikulieren mussten, setzte der Beifall für die von Sandra Pocceschi einstudierte Inszenierung von Marie-Eve Signeyrole im bei weitem nicht ausverkauften Zuschauerraum mit erwartbarer Vehemenz ein.

Souveräne Musik
Elisabeth Sobotka greift das Prinzip ihres Intendanz-Vorgängers Matthias Schulz auf, im Knobelsdorff-Bau vor allem neue Opern mit einem Orchesterpart zu bringen, in dem die Staatskapelle Berlin besonders gut und brillant zur Geltung kommt. Das tut der Premium-Klangkörper in der bemerkenswert farbenreich schattierenden Partitur von Foccroulle zweifelsohne. Anja Bihlmaier nutzte am Pult alle Wirkungen, welche Foccroulles engagierte, bestechende und kristalline Edelpartitur ermöglicht. Die Katastrophen in der Familie der Klimaforscherin Sandra und ihres Vaters vollziehen sich zu einer gleißend schönen und intelligenten Instrumentation, welche das Wissen und Können nicht nur der gesamten Neuen Musik, sondern auch seit Wagner und Debussy aufzusaugen scheint.
Foccroulle kann äußerst wirkungsvoll für Stimmen schreiben, fast ohne diese mit Mitteln der erweiterten Tonproduktion zu fordern. Seine Kantilenen sind lang und tragfähig, die Deklamationsmomente arios verdichtet. So erweist Foccroulle sich in erster Linie als Klangmagier mit einer die gesamte Dauer tragfähigen Varianz und Kreativitätsfülle. Desto mehr fällt dagegen der bourgeiose Realismus von Signeyroles Personenführung ab.

Ausholendes Opern-Essay
Fabien Teignés Bühnenbild greift so gut wie alle semantischen, musikalischen und textuellen Motive der Oper auf. Nur durch eine ansatzweise Archaik unterscheiden Yashis Kostüme die mythologischen Figuren der Seherin Cassandra, des Gottes Apollon und des trojanischen Königs Priam. Teigné setzt eine Wand mit Waben für das in drei Sätzen komponierte Verschwinden der Bienen. Als Material und auf Projektionsflächen sieht man die Zerstörung der antarktischen Eislandschaft neben den Andeutungen eines Studios und dafür deutlicher die Ausstellung kostenintensiver Wohnkulturen.
Problembewusste und Anpackende
Den Cassandra-Mythos über die Seherin, der niemand glaubt, hat Jocelyn in enge Parallelität zu einer Gegenwartshandlung gebracht. Sandras Liebhaber Blake ist Altphilologe und forscht über die Figur Cassandras bei Aischylos. Er kommt bei einer Schiffskatastrophe in der Antarktis ums Leben. Sandra räsoniert darüber, wie man die Mitwelt humorvoll für den Fakt des Klimawandels sensibilisieren könnte. Sandras Schwester Naomi verliert ihr Kind, die Beziehungen zwischen Sandra und Drake bzw. Cassandra und Apollon haben analoge Scharten. Jocelyn bringt in seinem relativ knappen Textvolumen erstaunlich viel Diskussionsstoff der Gegenwart unter – inklusive eines ästhetischen Exkurses darüber, ob humorvolle Mittel zur Darstellung der Klimakatastrophe zielführend sind. Mit aphoristischer Schärfe hakt Jocelyn die Unbelehrbarkeit der Älteren ab. Zwei Typen Mensch gibt es: Problembewusste und Anpackende – so Sandras Vater Alexander an der festlichen Familientafel.
Bewegung oder emotionales Engagement evozieren Signeyroles Abläufe nicht, die Spaltung zwischen Antike und Gegenwart bleibt schöne Absicht. Ein Gen für Thriller und Horror, der die szenische Intensität auf Höhe der subtilen Partitur bringen könnte, lässt Signeyrole also nicht erkennen.

Passgenaue Besetzungen
Die Soli investieren üppige Fülle und Farbreichtum, weil die Partitur das ermöglicht. Katarina Bradić überzieht die Titelfigur und deren Versehrtheit mit charismatischer Leuchtkraft. Jessica Niles singt Sandra auf imponierend sicherem Niveau, Sarah Defrise setzt die leidende Naomi affektiv. Die Männerpartien geraten gebrochener. Gidon Saks modelliert die Vaterfiguren als kantige Grandseigneurs, Joshua Hopkins einen gekonnt konturenlosen Apoll. Valdemar Villadsen gestaltet mit Drake einen sich zwischen Kinderwunsch und Klimawandel, Sein und Bewusstsein härmenden Zeitgenossen. So bekundet dieses staatsoperngemäß runde Gesamtprodukt breit zelebriertes Krisenbewusstsein und Manifest professioneller artikulierter Schuldgefühle – profund erdacht und perfekt präsentiert. Insofern war es nur stimmig, dass die komponierten und inszenierten Zwischenrufe aus dem Zuschauerraum guten Effekt machten – mit ungefährlichem Humor.
Staatsoper unter den Linden Berlin
Foccroulle: Cassandra
Anja Bihlmaier (Leitung), Marie-Eve Signeyrole (Regie & Video), Sandra Pocceschi (Szenische Einstudierung), Fabien Teigné (Bühne), Yashi (Kostüme), Philippe Berthomé (Licht), Artis Dzērve (Mitarbeit Video), Dani Juris (Chor), Louis Geisler, Elisabeth Kühne (Dramaturgie), Katarina Bradić (Cassandra), Jessica Niles (Sandra), Susan Bickley (Hecuba, Victoria), Sarah Defrise (Naomi), Valdemar Villadsen (Blake), Joshua Hopkins (Apollo, Angry Audience Member), Gidon Saks (Priam, Alexander), Sandrine Mairesse (Stage Manager, Marjorie), Lisa Willems (Conference Presenter), Staatsopernchor Berlin, Staatskapelle Berlin
Termintipp
So., 22. Juni 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Foccroulle: Cassandra
Katarina Bradić (Cassandra), Jessica Niles (Sandra), Susan Bickley (Hecuba/Victoria), Sarah Defrise (Naomi), Valdemar Villadsen (Blake), Anja Bihlmaier (Leitung), Marie-Eve Signeyrole (Regie)
Termintipp
Mi., 25. Juni 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Foccroulle: Cassandra
Katarina Bradić (Cassandra), Jessica Niles (Sandra), Susan Bickley (Hecuba/Victoria), Sarah Defrise (Naomi), Valdemar Villadsen (Blake), Anja Bihlmaier (Leitung), Marie-Eve Signeyrole (Regie)
Termintipp
Do., 03. Juli 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Foccroulle: Cassandra
Katarina Bradić (Cassandra), Jessica Niles (Sandra), Susan Bickley (Hecuba/Victoria), Sarah Defrise (Naomi), Valdemar Villadsen (Blake), Anja Bihlmaier (Leitung), Marie-Eve Signeyrole (Regie)
Termintipp
Fr., 11. Juli 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Foccroulle: Cassandra
Katarina Bradić (Cassandra), Jessica Niles (Sandra), Susan Bickley (Hecuba/Victoria), Sarah Defrise (Naomi), Valdemar Villadsen (Blake), Anja Bihlmaier (Leitung), Marie-Eve Signeyrole (Regie)