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Opern-Kritik: Staatsoper Unter den Linden Berlin – Wozzeck

Markerschütternde Dramatik

(Berlin, 14.12.2025) Wenn eine Wiederaufnahme zur grandiosen Premiere mutiert: Auf den Tag genau 100 Jahre nach der Uraufführung dirigiert Christian Thielemann den „Wozzeck“ – und triumphiert vollends.

vonKirsten Liese,

Als eines der bedeutendsten Musikdramen der Moderne hat Alban Bergs „Wozzeck“ seinen festen Platz in der Geschichte. Aber wann ist einem schon einmal derart bewusst geworden, dass dieses Werk trotz der atonalen Tonsprache, trotz Vorformen der von seinem Lehrer Arnold Schönberg begründeten Zwölftontechnik, in der Spätromantik wurzelt? Um das zu erleben, braucht es einen, der der Partitur so tief auf den Grund geht wie Christian Thielemann, der das Stück auf den Tag genau 100 Jahre nach der Uraufführung am 14.12.1925 in der Berliner Staatsoper unter den Linden wieder ins Repertoire geholt hat. 

Diese Interpretation hat ihre Zeit gebraucht. Als der Kapellmeister vor 35 Jahren „Wozzeck“ erstmals in Turin dirigierte, unterschätzte er ihn nach eigenen Worten, indem er „nur leicht mit dem Pinsel drüber ging“, was aber insofern funktionierte, als dass die Oper erwartet modern klang.

Romantisch und modern zugleich

Dass für eine vielschichtigere Lesart der komplexen Partitur ein hoher Probenaufwand vonnöten war, lässt sich denken, zumal – wie Thielemann anschließend auf der Jubiläumsfeier sagt – diesem Werk nicht beim Studium am Schreibtisch beizukommen ist, sondern erst beim Musizieren. Erich Kleiber, Dirigent der Uraufführung, soll sogar für das weiland als unaufführbar geltende Stück 150 Proben beansprucht haben. Das sind freilich Dimensionen, die sich in heutigen Zeiten kaum noch denken lassen. Die großen Investitionen in diese Wiederaufnahme haben sich jedenfalls gelohnt: Facettenreich fächert der Berliner Stardirigent die Musik am Pult seiner Staatskapelle auf – in ihrer Expressivität, kammermusikalischen Intimität und markerschütternden Dramatik. Sein „Wozzeck“ wirkt romantisch und modern.

Szenenbild aus „Wozzeck“
Szenenbild aus „Wozzeck“

Zeitlos packend inszeniert von Andrea Breth

Mit Fug und Recht feiert die Berliner Staatsoper die auch seitens des Ensembles runderneuerte Wiederaufnahme von 2011, zeitlos packend inszeniert von Andrea Breth, in ihrer 101. Vorstellung wie eine Premiere mit anschließendem Sektempfang. Vor allem in den Zwischenspielen vermittelt sich das neue Hörerleben, allen voran in den ersten beiden, in denen Violine, Viola und Cello solistisch mit einem Reichtum an aparten Melodien hervortreten, teils sekundiert von Harfenklängen, sowie unter den Bläsern Klarinette, Fagott, Flöte und Trompete. Jedes Instrument vom Kontrafagott bis zum Xylophon hat in dieser bis in kleinste Winkel hinein fein ziselierten, filigranen Einstudierung seinen Auftritt, nicht zu vergessen Akkordeon und Gitarre in einer Szene im Wirtshaus auf der Bühne. Die von Thielemann freigelegte Spätromantik kommt zudem stark in den Szenen mit Marie, Wozzecks Lebensgefährtin und Mutter seines kleinen Sohnes, zum Tragen, im Wiegenlied für den Bub oder auch in ihrem Monolog „Und ist kein Betrug in seinem Mund erfunden worden“.

Szenenbild aus „Wozzeck“
Szenenbild aus „Wozzeck“

Welch eine Besetzung!

Anja Kampe verkörpert diese Frau mit ihrem strapazierfähigen Sopran in ihrer ganzen Ambivalenz, gibt glaubwürdig die liebende Mutter und zugleich die Lebenshungrige, die sich zu sexuellen Abenteuern hinreißen lässt, exponiert mal in verzweifelten Ausbrüchen, mal bedrückt ganz im Stillen, was auf ihrer Seele lastet. Der testosterongesteuerte, kerlige Tambourmajor, mit dem sie Wozzeck untreu wird, wirkt dem mit dem mächtigen Strahl seines Tenors auftrumpfenden Andreas Schager wie auf den Leib geschrieben.

Andrea Breths Inszenierung der auf Georg Büchners Dramenfragment basierenden Tragödie, ursprünglich für das Berliner Schillertheater, dem damaligen Ausweichquartier konzipiert, harmoniert in der Reduktion sehr gut mit der Neueinstudierung, geht mit der Musik Hand in Hand. In Gestalt des grandiosen Simon Keenlyside ist Breths Wozzeck vom ersten Bild an und fortwährend ein Gepeinigter, dem von allen Seiten nur Empathielosigkeit, Häme und Hohn entgegenschlagen. Zwar lässt er sich vom Hauptmann (imposante Statur und Stimmgewalt: Wolfgang Ablinger-Sperrhacke) und vom Doktor (treffend abstoßend: Stephen Milling), in deren Diensten er steht, nicht ohne Widerrede erniedrigen, aber seine Reizbarkeit wächst. Als er sich selbst von Marie verraten fühlt, er ansehen muss, wie sie sich vor seinen Augen einem anderen hingibt, ist das Maß voll. Da kann er nicht mehr und wird zum Mörder.

Aber so wie Wozzeck von Anfang an ohnehin kein Leben in Freiheit vergönnt ist, sondern mehr das eines Sklaven perfider Ausbeuter, zeigt Martin Zehetgrubers Bühne einen Raum, der mit Wänden aus Gitterstäben, zudem in kammerspielartigen Szenen mit wenigen Figuren auf wenige Quadratmeter begrenzt, an ein Gefängnis erinnert.

Szenenbild aus „Wozzeck“
Szenenbild aus „Wozzeck“

Ein Crescendo bis zur Schmerzgrenze

Nach der Verzweiflungstat platzt im Graben die Bombe, erhebt sich im gesamten Orchester ein Unisono, das bis zur Schmerzgrenze crescendiert und im gefühlt vierfachen Fortissimo entlädt. Es ist der Anfang vom Ende, wird doch eine Frau namens Margret, mit der Wozzeck in der Schenke tanzt, Blut an ihm entdecken und er das vermaledeite Messer, die Tatwaffe, nicht mehr finden. Anna Kisjudit mit ihrem kräftigen, sonoren Mezzo zuletzt in Wagners „Ring“ als Erda eine Wucht, empfiehlt sich in dieser Minirolle als Luxusbesetzung. Gesungen und musiziert wird rundum bis in Kleinstrollen aufs Vorzüglichste, singen und sprechen zudem alle wie immer unter Thielemann ausgesprochen textverständlich.

Epochal

Nach dem finalen Freitod des Helden steht der kleine Sohn ganz alleine auf der Bühne mit seinem Steckenpferd. Die Kinder, die ihm profan vom Tod seiner Mutter berichten, (Chor- und Kinderchoreinstudierung: Dani Juris) singen dicht gedrängt aus dem Graben. Bedrückender könnte die Oper kaum enden. Nach „Die schweigsame Frau“ von Richard Strauss ist diese verdient umjubelte Aufführung eine weitere von epochaler Bedeutung. In kurzer Zeit hintereinander hat Christian Thielemann, wiewohl an der Berliner Staatsoper noch nicht lange im Amt, zwei extrem anspruchsvolle Herausforderungen gemeistert, wie es sich nicht besser denken ließe. Das reicht schon aus, um sich als „Oper des Jahres“ zu empfehlen.

Staatsoper unter den Linden Berlin
Berg: Wozzeck

Christian Thielemann (Leitung), Andrea Breth (Regie), Martin Zehetgruber (Bühne), Simon Keenlyside (Wozzeck), Anja Kampe (Marie), Andreas Schager (Tambourmajor), Florian Hoffmann(Andres), Wolfgang Ablinger-Sperrhacke (Hauptmann), Stephen Milling (Doktor), Anja Kissjudit (Margret), Friedrich Hamel (Erster Handwerksbursche), Dionysios Avgerinos (Zweiter Handwerksbursche)




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