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Porträt Tschechische Philharmonie

Philharmonie der Nation

Kein Orchester von Weltrang ist so stark in seiner Heimat verwurzelt wie die Tschechische Philharmonie in Prag

vonTeresa Pieschacón Raphael,

International berühmt ist die Tschechische Philharmonie wegen ihres „weichen Klangs“ und ihrer Referenzaufnahmen mit Musik tschechischer Komponisten. In ihrer Heimat aber wird sie angebetet wie ein nationales Heiligtum – mit standesgemäßer Adresse: dem Rudolfinum in Prag, dem Tabernakel der tschechischen Kultur. Ihre Gründung wird mit dem Konzert am 4. Januar 1896 an eben diesem Ort angesetzt, das der weltberühmte Antonín Dvořák, seinerzeit aus den USA zurück, dirigierte. Nur wenige Jahre später, 1901, kam es zum ersten Streik unter den Musikern. Komponist Karel Kovařovic, der die Leitung innehatte, entschied, die Streikenden zu entlassen. Diese formierten sich neu, zu einer Philharmonischen Genossenschaft, der heutigen Tschechischen Philharmonie. Karel Paul, ein Musiker der ersten Stunde im Jahre 1903: „Die finanzielle Lage des Orchesters war jämmerlich: Gagen gab es keine, lediglich die Erträge der Konzerte wurden unter den Musikern aufgeteilt.“

Mit etwa 40 Mann – heute sind es fast dreimal so viele – probte man in Gaststätten und Tanzlokalen, spielte als Kurorchester auf. 1908 schien sich die Lage gebessert zu haben: Gustav Mahler, ein Jahr zuvor noch Wiener Hofoperndirektor, war in Prag, um beim sechzigjährigen Regierungsjubiläum Kaiser Franz Joseph I. seine siebte Sinfonie uraufzuführen. Aus dem Hotel schreibt er an sein „liebstes Almscherl“: „Ich muss darüber nachdenken, wie man aus einem Wurstkessel eine Pauke, aus einer rostigen Gießkanne eine Trompete, aus einer Heurigenschenke ein Concertlokal machen kann. Ein verzweifelter Trompeter hat gefragt: ‚Jetzt möcht ich nur wissen, was da dran schön sein soll, wenn einer die Trompeten fortwährend in den höchsten Tönen gestopft bis zum hohen Cis hinauf blasen soll.‘ Diese Äußerung hat mich sofort auf das Innere des Menschen gewiesen, der auch sein eigenes Jammerleben, das sich in den höchsten Tönen gestopft herumquälen muss, nicht begreifen kann, und wie dieses Gekreisch in der allgemeinen Weltensymphonie in den großen Akkord einstimmen soll.“

„Er erinnerte mich an Chaplin: Seine Füße waren zu groß“

Kein Jammerleben erwartete das Orchester mit Václav Talich, der es von 1919 bis 1941 führte und dem es gelang, die Finanzen durch Auslandstourneen und die Zusammenarbeit mit His Masters Voice abzusichern. Ihm folgte 1942 Rafael Kubelík. Er setzte sich für die Verstaatlichung des Ensembles ein, den Wiederaufbau des Dvořák-Saals im Rudolfinum sowie die Gründung des berühmten Musikfestivals „Prager Frühling“. Als 1948 die Kommunisten die Macht übernahmen, bekam Talich Dirigierverbot, und auch Kubelík kehrte von einer Auslandstour nicht mehr zurück. „Ein Schock für das Orchester“, erinnert sich František Sláma (1923–2004). Talich hatte ihn 1946 ins Orchester geholt.

Lebhaft erinnert sich der Cellist an Gastdirigenten, etwa den fröhlichen Sir John Barbirolli: „Vom Hals hinunter erinnerte er mich an Chaplin, irgendwie waren seine Füße zu groß.“ „No, no! Frei Bogen!“ war das Motto des neunzigjährigen Leopold Stokowsky, der 1972 mit dem Orchester seine monströse Orchesterversion von Bachs Toccata und Fuge in d-Moll einspielte. Beeindruckend die Persönlichkeit von Sergiu Celibidache, der Mikrofone ablehnte und obsessiv an der Dynamik feilte, im Wissen, dass die Kunst eines Orchesters sich in der Fähigkeit zeigt, im Forte noch ein Piano zu finden. Spannend die Geschichten, die Otto Klemperer von Gustav Mahler erzählte, und die Zusammenarbeit mit Arthur Honegger, Darius Milhaud und immer wieder Dmitri Schostakowitsch.

Die Schlammschlacht um Gerd Albrecht, von 1993 bis 1996 Chefdirigent, erlebte Sláma, der bis 1981 im Orchester wirkte, nicht. Albrecht, der erste Nicht-Tscheche am politisch brisanten Pult, wurde offenbar zum Symbol für alles, was Deutsche den Tschechen angetan hatten. „Ich muss büßen für 300 Jahre Habsburger-Herrschaft, für die Nazi-Okkupation und die Beteiligung von DDR-Truppen an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968“, sagte er 1996 im „Spiegel“. Albrechts klare Sprache besitze in der Tschechoslowakei keine Tradition, meinte damals der tschechische Botschafter in Bonn, Jiří Gruša.

Der Tscheche Jiří Bělohlávek, seit 2012 Chefdirigent, kennt das Orchester seit Kindertagen. 1972 assistierte er Václav Neuman. „Es ist in der Tat verstörend“, sagte er 2007, „dass die Wechsel an der Spitze des Orchesters so häufig kommen. Für mich ist dies ein deutliches Zeichen, dass der Organismus nicht richtig funktioniert. Die Tschechische Philharmonie ist keinesfalls ein besonders schwer zu leitendes Orchester. Am Podium fühle ich mich dort immer sehr wohl.“

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