Des Dirigenten unbekannte Seite

Buch-Rezension: Nikolaus Harnoncourt – Entdeckergemeinschaft

Des Dirigenten unbekannte Seite

Posthum veröffentlichte die Witwe von Nikolaus Harnoncourt nun seine Aufzeichnungen über Concentus Musicus

Denkt man an die letzten Jahre des 2016 verstorbenen Nikolaus Harnoncourt, fällt einem manches ein: eine große Medienpräsenz (im österreichischen Fernsehen weit prominenter als im deutschen), ein Orchesterleiter mit unkonventionellen Dirigierbewegungen, der seine Botschaft aber ohnehin eher mit den Augen zu transportieren scheint, Auftritte an zwar ausgewählten, aber bedeutenden Spielstätten wie den Salzburger Festspielhäusern, bei der Styriarte in Graz oder an der Zürcher Oper, schließlich die Zusammenarbeit mit so hervorragenden wie verschiedenen Klangkörpern: den Wiener Philharmonikern als groß besetztes, traditionelles Sinfonieorchester, dem Chamber Orchestra of Europe mit kleinerer Besetzung und daraus resultierend schlankerem Klang und nicht zuletzt dem Concentus Musicus, dem von Harnoncourt vor langer Zeit gegründeten Originalklangensemble.

Die lange Entwicklung vom Musikstudenten Harnoncourt zum meist gefeierten Dirigenten zeichnet das Buch „Wir sind eine Entdeckergemeinschaft“ nach, das von Harnoncourts Witwe Alice 2017 herausgegeben wurde. Es handelt sich dabei keineswegs um eine Biografie, sondern um schriftliche Erinnerungen, die Harnoncourt hinterlassen hat und die eine sehr persönliche Seite des Musikers zeigen.

Besessen von alten Instrumenten

Wer nur den späten Harnoncourt kennt, wird ganz neue Dinge erfahren: Dass er als Cellist begann und den Concentus lange Jahre von diesem Instrument aus leitete, ehe er sich entschied, nur mehr zu dirigieren. Dass er sich wie besessen auf alles stürzte, was an alten Instrumenten zu finden war – meist vollkommen zufällig. Mit welchen Tricks er arbeiten musste, um solche Instrumente zu ersteigern oder deren oft ahnungslose Besitzer zu überreden, sie zu verkaufen. Wie mühselig es anschließend gewesen sein muss zu lernen, auf diesen Instrumenten auf einem adäquaten Niveau zu musizieren. Dass er, obwohl Cellist, sich auch um Stimmung und oft notwendige Reparatur des für Barockmusik so wichtigen Cembalos kümmerte, in manchen Fällen bis kurz vor Konzertbeginn. Aber auch, dass er als Dozent immer wieder Vorträge gab oder Unterrichtsstunden abhielt.

Viele neue Einblicke

Manche der Kapitel sind nicht einfach zu verstehen. Keinesfalls wegen der verwendeten Sprache: Harnoncourt konnte sich immer sehr verständlich ausdrücken. Aber manche Sachverhalte werden nur kurz angerissen, da man sich den Rest sicher selbst vorstellen könne. Hier stößt das Prinzip, persönliche Erinnerungen zu veröffentlichen, an seine Grenze. Das gleiche gilt für viele der genannten Personen. Die einzelnen Mitglieder des frühen Concentus kann man sich noch merken, doch wer sich nicht gut auskennt im Wiener Musikleben der 1950er- und 1960er-Jahre (und das dürfte die meisten Leser betreffen), kann manche Begebenheit, etwa mit Konzertveranstaltern, nur schwer einsortieren. Das sind aber auch die einzigen Schwächen des Buches.

Andererseits erhält man viele neue Einblicke in ein höchst ungewöhnliches, weil selbst organisiertes und musikalisch reichlich Neuland betretendes Ensemble und auch dessen erstes Repertoire, das weit mehr bot als die bekanntesten Barockwerke – im Gegenteil: Bachs Passionen, die h-Moll-Messe und die Brandenburgischen Konzerte wurden erst relativ spät ins Programm genommen. Stattdessen wurde jede Menge Musik in Archiven ausgegraben, die damals niemand kannte.

Anekdoten von Nikolaus Harnoncourt

Schließlich kann man noch jenen Nikolaus Harnoncourt kennenlernen, der über einen sehr trockenen und manchmal bissigen Humor verfügte. Neben einzelnen Episoden wie das unglaublich schlechte Essen in einem englischen Hotel oder bei einer Chorprobe von der Decke herabfallende Stuckteile, ist es hier vor allem der Bericht über eine Aufführung der Matthäus-Passion mit Karl Richter, an der Harnoncourt vermutlich als Cellist teilnehmen musste und an der musikalisch – zumindest nach Harnoncourts Meinung – so gut wie alles falsch gemacht wurde. Neben den (viel zu) langsamen Tempi erfährt auch das offenbar in weihevoller Andacht nahezu erstarrte Publikum eine kritische Bewertung. Das ist brillant beobachtet und höchst unterhaltsam geschrieben.

Für die nicht so schnell verständlichen Abschnitte sei als zusätzliche Lektüre oder besser vorab entweder Monika Mertls Biografie des Ehepaars Harnoncourt „Vom Denken des Herzens“, das 1999 erschienen ist, oder das Buch zum 50-jährigen Bestehen des Concentus Musicus „Die seltsamsten Wiener der Welt“ aus dem Jahr 2003 empfohlen.

Nikolaus Harnoncourt: Wir sind eine Entdeckergemeinschaft – Aufzeichnungen zur Entstehung des Concentus Musicus
Herausgegeben von Alice Harnoncourt
224 Seiten
Residenz-Verlag 2017

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